Deutsche Geschichten
Machtergreifung
Machtergreifung
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 

Die nationalsozialistische Führung wurde vom Reichstagsbrand offensichtlich überrascht und reagierte zunächst hysterisch. Nach den ersten Informationen über den Täter und von einem Augenzeugen, der kurz vor dem Brand noch kommunistische Abgeordnete im Reichstag gesehen haben wollte, stand für Göring fest: "Das ist der Beginn des kommunistischen Aufstandsversuches, sie werden jetzt losschlagen. Es darf keine Minute versäumt werden." Hitler überbot ihn in der Androhung radikaler Verfolgungsmaßnahmen. "Es gibt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht. Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständnis haben. Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden. Alles ist festzusetzen, was mit den Kommunisten im Bunde steht. Auch gegen Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr."

Ausnahmezustand

Auf diesen Ausbruch einer wilden Bürger-
kriegsmentalität überstürzten sich die Anordnungen an die Polizeibehörden: Alle kommunistischen Abgeordneten und Funk-
tionäre sollten verhaftet werden, auch die SPD und ihre Presse wurden in die Verfolgung einbezogen. Zur Legalisierung der Aktionen schlug der Staatssekretär im preußischen Innenministerium Ludwig Grauert noch in
der Nacht eine "Notverordnung gegen Brand-
stiftung und Terrorakte" vor. Am nächsten Morgen wurde dann unter Verwendung entsprechender Pläne der Regierung Papen für den militärischen Ausnahmezustand der Entwurf einer "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" (Reichstagsbrandverordnung) vorgelegt, dessen Inhalt weit über die nächt-
lichen Vorschläge hinausging und im Laufe des Tages noch verschärft wurde. Nun enthielt der Text einen ganzen Katalog von zum Teil vorhandenen Straftatbeständen, die jetzt nachträglich mit der Todesstrafe bedroht wurden (so insbesondere Hochverrat und Brandstiftung). Hinzu kam die Sanktionierung des zivilen Ausnahmezustand.
Nicht die Reichswehr oder der Reichspräsident, sondern die Reichsregierung und der Innen-
minister konnten über die Ausführung des Ausnahmezustandes entscheiden, der alle verfassungsmäßigen Grundrechte außer Kraft setzte. Die Hysterie der Brandnacht ermöglich-
te es, alle Grundrechte der Weimarer Verfas-
sung bis auf weiteres - und das hieß tatsäch-
lich bis 1945 - außer Kraft zu setzen. Sie beschleunigte zugleich die Selbstlähmung der konservativen Bündnispartner, als sie die Entscheidung über den Ausnahmezustand in die Hände Hitlers und des nationalsozial-
istischen Reichsinnenministers Wilhelm Frick fallen ließen.

Wahlen vom 5. März 1933

Um so erstaunlicher war es, dass in diesem Klima von Rechtsunsicherheit und Gewalt bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 die NSDAP mit 43,9 Prozent und die Deutschnatio-
nalen mit acht Prozent zusammen nur knapp die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielten; dass umgekehrt das katholische Zentrum und die SPD ihren Stimmenanteil halten und sich damit zum letzten Mal auf die große Geschlossenheit ihres jeweiligen Wählerpotentials stützen konnten. Auch die KPD erreichte trotz der massiven Behinderung und Verfolgung mit 12,3 Prozent ein bemer-

kenswertes Ergebnis. Die Parteien der bürger-
lichen Mitte wurden hingegen endgültig zerrieben. Der Stimmenzuwachs der NSDAP mit 10,8 Prozent gegenüber den Wahlen im November 1932 und 6,5 Prozent gegenüber den Juliwahlen von 1932 enttäuschte die Erwartungen der Parteiführung. Beobachter waren sich einig, dass dieser Zuwachs vor allem auf das Konto Hitlers bzw. des Hitler-Mythos ging, der im Mittelpunkt des Wahl-
kampfes gestanden hatte. Ihre Gewinne schöpfte die NSDAP vor allem aus dem Reservoir der Nicht- und Neuwähler, teilweise auch aus dem Potential der Protestwähler, die bislang KPD gewählt hatten und jetzt im Massensog ihr Heil im anderen Extrem suchten. Der hohe Grad der politischen Mobilisierung spiegelte sich in der Wahlbe-
teiligung, die auf die Rekordmarke von 88,8 Prozent gestiegen war.

Gleichschaltung der Länder

Mit dem Wahltag begann der Prozess der Gleichschaltung in Ländern und Kommunen, aber auch der Verbände und Vereine. Damit brach ein Erdrutsch über Deutschlands Städte und Dörfer herein, der die überlieferte politische Ordnung zerstörte und soziale Netzwerke weitgehend zerstörte. Es war ein Vorgang einer teilweise gewaltsamen, teilweise freiwilligen Gleichschaltung, in dem sich der Macht- und Ausgrenzungswille der nationalso-
zialistischen Führung mit den sozialen Ressentiments der Zukurzgekommenen und in dem sich Aufbruchs- und Erneuerungspathos mit Anpassungsdrang und Opportunismus verbanden.
Die Gleichschaltung der Länder vollzog sich zwischen dem 5. und 9. März 1933 in der bereits bewährten Taktik nationalsozialistischer Machteroberung durch das Ineinandergreifen zweier Strategien: durch revolutionäre Aktionen auf der Straße von unten und durch scheinlegale, administrative Maßnahmen der Reichsregierung von oben. Begründet wurden die Aktionen mit dem Wahlsieg der NSDAP, den man nun in Ländern und Kommunen nachvollziehen müsse. Das entsprach weder den Wahlergebnissen noch den Verfassungs-
grundsätzen des Föderalismus, aber das zählte nicht mehr. Überall forderten die National-
sozialisten die Einsetzung von Reichskommis-
saren oder die Beteiligung an der Landesregie-
rung bzw. die Posten von Bürgermeistern und Polizeipräsidenten. Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, kam es zusätzlich zu organisierten Kundgebungen des sogenannten "Volkszornes". Nationalsozialistische Demonstranten, meistens SA-Männer oder Parteiaktivisten rückten vor die Rathäuser und Regierungsgebäude, verlangten das Hissen einer Hakenkreuzfahne und drohten mit der Blockade bzw. Erstürmung der Gebäude. Dies wiederum nutzte der Reichsinnenminister dann als Vorwand, um unter Berufung auf Artikel 2 der "Reichstagsbrandverordnung" einzugreifen. Er setzte die Landesregierung ab und setzte einen Kommissar, in der Regel den zuständigen Gauleiter der NSDAP oder einen anderen führenden Nationalsozialisten, ein und ernannte auch kommissarische Polizei-
präsidenten. Dass dies in der Regel reibungslos verlief, hatte mit der allgemeinen politischen Resignation der republikanischen Kräfte zu tun. Die eigentliche Schwäche der meisten Länderregierungen lag darin, dass sie wie in Bayern, Württemberg, Hessen, Sachsen und Hamburg keine parlamentarischen Mehrheiten mehr besaßen und nur noch geschäftsführend im Amt waren.

Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 

cine plus Bundeszentrale für politische Bildung
Weitere Links  Links  Lesezeichen  Lesezeichen setzen  Druckversion  Druckversion   Impressum   Hilfe