Ungleich dem Bild des „Zigeuners“, dessen Legendenvorrat in der Literatur nach 1945 unverändert geblieben ist, existieren nach dem Holocaust neben den alten Stereotypen der „schönen Jüdin“ und dem „gewissenlosen und geizigen Juden“ auch neue. Neu an den zunächst wenigen literarischen Judenbildern seit 1945 ist die Reduktion des Juden auf ein schutz- und wehrloses Opfer, wofür Bruno Apitz' erfolgreicher Roman „Nackt unter Wölfen“ (1958) steht. Im Mittelpunkt des Romans steht ein kleiner jüdischer Junge, der von Auschwitz nach Buchenwald geschmuggelt und dort von kommunistischen Häftlingen versteckt und gerettet wird. Die Konzentration auf ein Kinderschicksal ist ein beliebter Kunstgriff, bei dem, weil das Grauen „verkleinert“ wird, die Sympathie und die Identifikation der Lesenden gewiss scheint. Nicht das Ausmaß der Vernichtung ist zentral und drängt ins Bewusstsein, sondern die Tatsache, dass ein Kind leiden muss. Schwieriger ist das Werk von Alfred Andersch zu bewerten, der wie kein anderer Nachkriegsautor Judenfiguren zum Thema gemacht hat. In seinem Roman „Efraim“ (1967) führt er einen deutsch-jüdischen Intellektuellen als Ich-Erzähler ein, der – vom frühen Exil und der Ermordung der Eltern in Auschwitz geprägt – nach Berlin kommt, um nach seiner Kinderfreundin Esther zu suchen. Während Efraim zu Beginn von Esthers Tod nahezu überzeugt ist, hat er am Ende Grund zur Annahme, dass sie bei Nonnen überlebt hat. Einerseits zeigt sich in Anderschs jüdischer Figur ein Hang zur Bagatellisierung der Ereignisse – als jüdische Figur darf Efraim ungestraft über die Zufälligkeit des Holocaust räsonieren –; auch lässt sein Buch eine Faszination an der fragwürdigen Verbindung von „Kitsch und Tod“ (Saul Friedländer) erkennen. Andererseits beschwört er die antisemitische Legendenfigur des „ewigen Juden“, um dessen mythisches Schicksal als unzeitgemäßes Gegenmodell zu seinem differenziert dargestellten und sehr lebendigen Ich-Erzähler darzustellen. Assoziative Wirkungen Im Hinblick auf Stereotype in der Literatur ist zu unterscheiden zwischen der Intention des Autors und dem von ihm ungewollt zum Ausdruck kommenden Vorrat unreflektierter Bilder. Durch die blinde Übernahme von Legenden und Vorurteilen hat die Belletristik mit dazu beigetragen, dass aus Sinti und Roma „Zigeuner“ und dass Juden holzschnittartig dargestellt wurden. Stereotype „Zigeuner“- bilder treten in zwei mitunter auch zusammenwirkenden Varianten auf: 1. Das negative Klischee, das dem „Zigeuner“, wie in Schnurres Erzählung „Jenö war mein Freund“, in der Kriminalisierung eine fundamentale Andersartigkeit unterstellt. Das traditionelle Bild des zwanghaft stehlenden Zigeuners ohne Unrechtsbewusstsein löst die
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Assoziationskette aggressiv, dreckig, asozial, arbeitsscheu, betrügerisch, gefährlich, kriminell aus. 2. Das überwiegend in Schauerromanen und Abenteuergeschichten, aber auch in Jugendbüchern nach 1945 („Mond, Mond, Mond“ von Ursula Wölfel) greifende positive Klischee, das romantisch-verklärend mit der Vorurteilsstruktur der „Zigeuner“ als freien, stolzen, wilden, lebensfrohen, sinnlichen Genüssen ergebenen Menschen operiert. Die „positive“ Kennzeichnung ist ebenso wie die negative ein Indiz für das Fehlen jeder Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Figuren und birgt durch den Abbau an Komplexität die Gefahr einer Verklärung der Umstände zum Sozial- oder Milieukitsch. Obwohl „Zigeuner-“ und Judenbildern unterschiedliche Feindvorstellungen zugrunde liegen – der „Zigeuner“ hat in der Personifikation von „Natur“ keinen Anteil am Prozess der Zivilisation, während der Jude eben diesen Prozess, Modernität und Modernisierung, verkörpert – gilt das negative wie das positive Klischee vom Zigeuner gleichermaßen für stereotype Judenfiguren. Jenseits von Typisierungen Eine wichtige Voraussetzung zur Vermeidung von Stereotypen ist die Einsicht, dass von außen herangetragene Typisierungen sehr viel mehr über die Mehrheitsgesellschaft als über leibhaftige „Zigeuner“ und Juden aussagen. Bei Autoren wie Johannes Bobrowski („Levins Mühle“, 1964), Erich Hackl („Abschied von Sidonie“, 1989) und Winfried Georg Sebald („Die Ausgewanderten“, 1992) bildet diese Einsicht einen Teil ihres Selbstverständnisses. In ihrer literarischen Annäherung an „Zigeuner“ und Juden hinterfragen sie das Arsenal der Mythen und Stereotype, indem sie der heiklen Tradition an Vorurteilen den Spiegel vorhalten. Diese Beispiele erschöpfen sich nicht in der Aufhebung eines Informationsdefizits im Hinblick auf Sinti, Roma und Juden, sondern bieten in ihrer Darstellung und Bewertung von Problemen, Konflikten und Auswegen auch eine Form der Informationsverarbeitung jenseits traditioneller Stereotype an. Daneben können literarische Selbstentwürfe der Betroffenen hartnäckige Legenden korrigieren. Erinnerungen wie Ceija Stojkas „Wir leben im Verborgenen: Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin“ (1988) und Marcel Reich-Ranickis „Mein Leben“ (1999) halten dem Stereotyp die Vielfalt individueller Erfahrungen entgegen und verhindern, indem die eigene Geschichte selbst erzählt wird, die Degradierung zum Objekt. Eine Vorstellung darüber, was eine jüdische Familie zur Zeit des dritten Reiches mitmachen musste und wie ihre Mitglieder systematisch dezimiert wurden, zeigt das Beispiel der Familie Chotzen
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