Ringen um die Erhaltung der DDR Am 13. November 1989 wurde Hans Modrow zum neuen Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Damit begann, nach einer kurzen Phase überschwänglicher Euphorie und grenzenloser Hoffnungen, das Alltagsgeschäft der Wende. Seit Beginn der Krise im Sommer hatte Modrow wiederholt erklärt, dass er hoffe, während der unsicheren Zeit des übergangs der DDR zu einer "sozialistischen Demokratie" ein stabilisierender Faktor zu sein. Seine eigentlichen Ziele blieben jedoch zunächst im Dunkeln. Manches spricht dafür, dass er - in enger Zusammenarbeit mit Markus Wolf, der 1987 als Chef der DDR-Auslandsspionage ausgeschieden und ein zuverlässiger Freund der Sowjetunion war - das SED-Regime grundlegend reformieren wollte, um es nicht nur als Eckpfeiler des sowjetischen Imperiums in Osteuropa zu erhalten, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der DDR gegenüber dem Westen zu erhöhen. In jedem Falle galt es, die DDR wirtschaftlich und finanziell zu sanieren - notfalls sogar im Rahmen einer Konföderation mit der Bundesrepublik -, um überhaupt erst einmal ihre Existenz zu sichern. Einerseits stand Modrow damit fest auf dem Boden des ostdeutschen Systems, das er - mit der Hoffnung auf Stabilisierung und ökonomischen Erfolg - den aktuellen Erfordernissen anzupassen gedachte, wobei er sich selbstverständlich auch zum Bündnis mit der Sowjetunion bekannte, ohne deren Unterstützung die DDR kaum überlebensfähig war. Andererseits war er pragmatisch und nüchtern genug, die ökonomischen Grenzen der DDR zu erkennen und daraus die notwendigen Schlüsse im Sinne gesamtdeutscher Initiativen zu ziehen. Unter günstigeren innen- und außenpolitischen Umständen hätte Modrow mit dieser Politik vielleicht sogar Erfolg haben können. Aber dazu war es Ende 1989 längst zu spät. Nicht nur die große Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung hatte inzwischen jegliches Zutrauen zu ihrer Regierung verloren. Auch die ostdeutsche Wirtschaft war bankrott, wie der scheidende Finanzminister Ernst Höfner am Tage der Amtsübernahme Modrows enthüllte. Neben einem Haushaltsdefizit von 120 Milliarden Mark der DDR und einer Auslandsverschuldung von 20 Milliarden Dollar war vor allem die Tatsache besorgniserregend, dass die Produktivität der ostdeutschen Betriebe seit 1980 um etwa 50 Prozent gesunken und ein Ende der Talfahrt nicht in Sicht war. Einem Vergleich mit westlichen Betrieben, der bei offenen Grenzen nicht zu vermeiden war, hielt die ostdeutsche Wirtschaft daher in keiner Weise stand. Vertraglich gesicherte Gemeinschaft Modrow schlug deshalb in seiner Regierungserklärung am 17. November 1989 eine "Vertragsgemeinschaft" zwischen den beiden deutschen Staaten vor und sprach in einem Interview mit dem Wochenmagazin "Der Spiegel" am 4. Dezember sogar von der Möglichkeit einer "deutschen Konföderation". Die DDR, so führte Modrow zur Begründung an, könne ihre wirtschaftliche Entwicklung nicht ohne "Blick auf den europäischen Markt" betrachten, wenn Ungarn, Polen und die anderen osteuropäischen Staaten auf dem Weg nach Straßburg und Brüssel seien - oder sich bereits dort befänden. Offenbar versuchte Modrow, massive wirtschaftliche Unterstützung von der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft zu erhalten, ohne sich vom Westen politisch absorbieren zu lassen. Die DDR sollte zu einer "sozialistischen Marktwirtschaft" umgestaltet werden, in der es nicht nur gemischte Besitzverhältnisse, sondern auch ein "sozialistisches Unternehmertum" geben werde. Doch Modrow fehlte nicht zuletzt die Zeit, derart weitreichende Reformen in die Tat umzusetzen. Die Situation verschlechterte sich von Tag zu Tag: Der Massenexodus von DDR-Bürgern mit über 2000 Flüchtlingen
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bzw. übersiedlern täglich hielt an, und die neuen politischen Kräfte in der DDR, wie das Neue Forum und die SPD-Ost, versammelten sich mit anderen Befürwortern von Reformen nach polnischem Vorbild zu Gesprächen mit der Regierung und den Kräften des alten Regimes am "Runden Tisch", wo sie eine Art Nebenregierung zum Kabinett Modrow und zugleich ein Ersatzparlament bildeten, nachdem die Volkskammer ihre Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung inzwischen gänzlich eingebüßt hatte. Der Machtverlust der alten Ordnung zeigte sich auch darin, dass die SED innerhalb von zwei Monaten nach dem Sturz Honeckers mehr als die Hälfte ihrer zuvor drei Millionen Mitglieder verlor. Dieser Schwund wurde nicht zuletzt durch die Enthüllung von Korruptionsskandalen gefördert, bei deren Aufdeckung sich Modrow allerdings ebenso auffällig zurückhielt wie bei der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, das für die DDR-Bevölkerung inzwischen zu einem der zentralen Kritikpunkte am SED-Regime geworden war. Für Modrow schienen die Staatsräson und der Schutz der eigenen Genossen wichtiger als die Glaubwürdigkeit seiner Reformpolitik. Am 3. Dezember 1989 war der Machtwechsel in der DDR schließlich endgültig vollzogen, als das gesamte Politbüro und das Zentralkomitee der SED zurücktraten. Egon Krenz verlor nicht nur seinen Posten als Generalsekretär der SED, sondern trat am 6. Dezember auch als Vorsitzender des Staatsrates und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates zurück. Alle Schlüsselpositionen wurden mit Anhängern Modrows besetzt. Neuer Vorsitzender der SED, die sich nun "Sozialistische Einheitspartei - Partei des Demokratischen Sozialismus" (SED-PDS) nannte, wurde der Rechtsanwalt Gregor Gysi, der sich als Verteidiger von Regimegegnern - darunter auch Bärbel Bohley - einen Namen gemacht hatte, sich nun aber ebenfalls rasch als loyaler Parteigänger Modrows erwies. Kohls Zehn-Punkte-Plan In der Bundesrepublik wurden die Entwicklungen in der DDR mit großer Aufmerksamkeit registriert. So war es den politischen Beobachtern hier auch nicht entgangen, dass bei der Montagsdemonstration in Leipzig am 6. November erstmals Sprechchöre mit dem Ruf "Deutschland, einig Vaterland" zu hören gewesen waren und dass dieser Slogan bei der Demonstration eine Woche später bereits ein bestimmendes Element auf den mitgeführten Transparenten dargestellt hatte. Außenminister Hans-Dietrich Genscher beruhigte deshalb am selben Tag seine Amtskollegen der Westeuropäischen Union (WEU) in Brüssel mit dem Hinweis, dass die Bundesrepublik keinen "nationalen Alleingang in der Außenpolitik" unternehmen werde. Mit anderen Worten: Die Wiedervereinigung sei kein Thema. Auch Bundeskanzler Kohl bekräftigte bei seinem Besuch in Polen am 14. November "die Buchstaben und den Geist" des Warschauer Vertrages von 1970 und unterzeichnete eine gemeinsame Erklärung mit Ministerpräsident Tadeusz Masowiecki, in der Bonn nochmals seine Garantie der polnischen Westgrenze erneuerte. Die Polen hätten vor dem Hintergrund der unsicheren Entwicklung in der DDR gerne eine weitergehende Zusicherung für die Oder-Neiße-Linie erhalten. Doch Kohl befand sich zu diesem Zeitpunkt unter einem doppelten innenpolitischen Druck: Einerseits wurde ihm von der SPD vorgeworfen, angesichts der dramatischen Veränderungen in Osteuropa und Ostdeutschland zu passiv zu sein; andererseits hatte sich die rechtsgerichtete Partei Die Republikaner bei Kommunalwahlen als bemerkenswert erfolgreich erwiesen, so dass bei den im Jahre 1990 bevorstehenden Landtags- und Bundestagswahlen ein Teil des konservativen Wählerpotenzials für die Regierungskoalition in Bonn an die Republikaner verloren zu gehen drohte. Überdies wusste der Kanzler um die
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