an die Voraussetzung gebunden war, dass die Bürger vor dem überschreiten der Grenzen noch den Gang zu den Passdienststellen antreten mussten. Tatsächlich gab es noch gar keinen amtlichen Beschluss, sondern nur eine Regierungsvorlage über die vorgezogene Grenzregelung, die Krenz von Innenminister Dickel während der ZK-Tagung erhalten hatte, um sie zu begutachten und abzusegnen. Nach der Zustimmung des Politbüros sollte sie dann im Umlaufverfahren von den Mitgliedern der noch amtierenden Regierung verabschiedet werden. Erst nach dieser Runde im Ministerrat, so das Verfahren, würden auch die entsprechenden Ausführungsbestimmungen erlassen. Dies brauchte jedoch Zeit, die nun nicht mehr zur Verfügung stand, weil die auf Öffentlichkeitswirkung angelegte Aktion von Krenz den Terminplan durchkreuzt hatte. Noch in der Nacht machten sich Tausende von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern auf den Weg zur Grenze, um sich an Ort und Stelle einen Eindruck von der neuen Lage zu verschaffen. Schabowskis missverständliche Äußerungen hatte bei ihnen die spontane Eingebung geweckt, dass sie "sofort" den Westen besuchen könnten. An den Grenzübergängen - vor allem in Berlin - war die Verwirrung allerdings groß, denn die Grenzposten hatten von der angeblichen Grenzöffnung ebenfalls erst aus den Medien erfahren. Die Grenzposten konnten deshalb am Abend des 9. November noch gar keine neuen Weisungen erhalten haben und mussten improvisieren. Als der Druck immer mehr anschwoll, entschieden sie nach längerem Zögern und verschiedentlichem Taktieren sowie nach einer ebenso eiligen wie provisorischen Konsultation ihrer Zentrale, die Grenzen aufzumachen. Auch Krenz, der gegen 21 Uhr von Mielke telefonisch unterrichtet wurde, dass "mehrere Hundert" Menschen an der Grenze die sofortige Ausreise verlangten, plädierte dafür, sie "durchzulassen", da die Öffnung ohnehin beabsichtigt und jetzt nicht mehr zu vermeiden sei. Damit war die Mauer, 28 Jahre nach ihrer Errichtung, gefallen. Der Jubel und das Chaos, die in den folgenden Tagen herrschten, ließen eine nüchterne politische Bestandsaufnahme der Entwicklung nur schwer zu. Vor allem war unklar, ob die Verwirklichung der so lange geforderten Reisefreiheit nur den Druck beseitigen würde, unter dem die DDR-Führung so lange gestanden hatte, so dass sogar eine Stabilisierung des SED-Regimes wieder möglich schien, oder ob die Beseitigung der Mauer die Schleusen für den Massenexodus noch weiter öffnete und die DDR damit ökonomisch auszubluten drohte. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, der zur Zeit des Mauerbaus 1961 Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen war und später durch seine neue Ostpolitik entscheidend dazu beigetragen hatte, die Spannungen zwischen Ost und West zu mindern und den Weg für Reformen in Osteuropa zu bereiten, erklärte in einer kurzfristig anberaumten Versammlung am Abend des 10. November vor dem Rathaus Schöneberg, nun sei eine neue Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten entstanden - eine Beziehung in Freiheit. Und damit sei die Zusammenführung der Deutschen in Ost und West auf Dauer nicht mehr aufzuhalten. "Jetzt", so Brandt wörtlich, " wächst zusammen, was zusammengehört." Beginn der deutschen Einigung Mit der Maueröffnung war die deutsche Einigung allerdings noch keine beschlossene Sache. Die Entwicklung seit Mitte der achtziger Jahre deutete vielmehr in die entgegengesetzte Richtung. Die Welt hatte sich an die deutsche Teilung gewöhnt. Die DDR war auf der Bühne der internationalen Politik inzwischen anerkannt. Und da weder im Ausland noch in Deutschland selbst die
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Existenz zweier deutscher Staaten, auf der die europäische Ordnung seit 1945 basierte, in absehbarer Zeit für revidierbar gehalten wurde, ohne den Frieden in Europa zu gefährden, zog man es allgemein vor, den Status quo der Teilung bereits für den "Normalzustand" zu halten. Die Wende vom Herbst 1989 traf daher Ost und West unvorbereitet. Obwohl es bei näherer Betrachtung zahlreiche Hinweise und Vorboten für den Wandel im kommunistischen Lager gegeben hatte, wurde man davon im Westen ebenso überrascht wie in der Sowjetunion. Dementsprechend unsicher waren anfangs die Reaktionen: Einerseits bestand die Hoffnung auf größere Freiheit bzw. - aus sowjetischer Sicht - den endgültigen Sieg der Perestroika; andererseits gab es Furcht vor einem möglichen Wiederaufleben der Deutschen Frage und des Rückfalls in die Probleme der Zeit vor 1945. Zwar bemühten sich Gorbatschow und seine Mitarbeiter bereits unmittelbar nach der Maueröffnung am 10. November 1989 in Kontakten mit der amerikanischen Administration und der Bundesregierung sowie mit der SED-Führung, eine unkontrollierte Eskalation der Entwicklung - etwa eine spontane Wiedervereinigung durch die Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland - zu verhindern und einen friedlichen Wandel in der DDR zu ermöglichen. Aber andere Kräfte in Moskau - vor allem im Parteiapparat und beim Militär - plädierten mehr oder minder offen für die Anwendung von Gewalt, um die Situation unter Kontrolle zu bringen: Eine "chinesische Lösung" nach dem Muster der Niederschlagung der Reformbewegung in China war daher keineswegs auszuschließen. So drohte der ehemalige sowjetische Botschafter in Bonn, Valentin Falin, der inzwischen Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU war, bei einem Empfang in Ostberlin in kleinem Kreis, man werde "eine Million Truppen schicken, um die Grenzen wieder zu schließen". In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" erklärte er darüber hinaus, falls Gorbatschow beabsichtige, seinen Willen "in eiserner Manier" durchzusetzen, brauche er - oder sein Nachfolger - dafür "nur einige Stunden". Falin fand mit dieser Position, die er später stets empört in Abrede stellte, Unterstützung bei der Generalität und beim orthodoxen Flügel der KPdSU unter Führung von Jegor Ligatschow, die zu Recht befürchteten, dass die DDR als unentbehrliche westliche Bastion des sozialistischen Lagers verloren gehen könne. Gorbatschow und vor allem Außenminister Eduard Schewardnadse wiesen jedoch auf die möglichen Konsequenzen einer Militäraktion in der Mitte Europas hin. Später behauptete Schewardnadse in einem Interview sogar, in diesen Stunden habe man sich "am Rande eines Dritten Weltkrieges" bewegt. Glücklicherweise habe er in der Auseinandersetzung mit den Befürwortern einer Militäraktion Rückendeckung von Gorbatschow erhalten, so dass ein militärischer Konflikt habe vermieden werden können. Auf westlicher Seite war die Reaktion ebenfalls uneinheitlich. Während man sich in London und Paris besorgt zeigte, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands, die jetzt nicht mehr auszuschließen war, neue Risiken für die europäische Ordnung heraufbeschwören könnte, betrachtete man die Entwicklung in Washington mit Gelassenheit und sogar mit Genugtuung, da das erklärte westliche Ziel im Ost-West-Konflikt - die Befreiung Osteuropas vom Kommunismus - der Verwirklichung nahe schien. In Bonn neigte man dagegen eher zur Zurückhaltung, um die komplizierte Situation nicht durch unbedachte eigene Schritte zusätzlich zu verwirren. Allerdings ließ Bundeskanzler Kohl es sich bei aller gebotenen politischen Vorsicht nicht nehmen, am 10. November vor dem Rathaus Schöneberg in Berlin den Ostdeutschen zuzurufen, sie seien "in dieser großen und historischen Stunde" nicht allein und sollten ihren Kampf um die Freiheit fortsetzen. Denn, so Kohl wörtlich, "wir sind an eurer Seite. Wir sind eine Nation."
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