Verlangsamung", von der Möglichkeit zur Konzentration, die in der Verwestlichung Ostdeutschlands abhanden zu kommen drohe. Errungenschaften der westeuropäischen Zivilisation, die in der Zeit der Teilung für viele in der DDR erstrebenswert erschienen waren, verloren nun plötzlich ihren Reiz. Zur Vielschichtigkeit gesamtdeutscher Identität, so hieß es nun, gehöre es, wenigstens die positiven Aspekte der DDR-Identität zu bewahren. Wie verbreitet das Gefühl der Bedrohung der eigenen Identität in Ostdeutschland war, zeigten nicht nur Meinungsumfragen, sondern auch die Wahlerfolge der PDS. Die Komplexität der Problematik von Veränderung und Bewahrung wurde auch in anderem Zusammenhang deutlich. Wolf Biermann schrieb dazu pointiert: "Die meisten Richter werden wohl Richter bleiben, genau wie nach 45 im Westen. Die Polizisten bleiben Polizisten. Die Chefs bleiben Chefs. Das Häuflein Aufrechter bleibt ein Häuflein." Mit anderen Worten: Biermann - so wie viele andere verfolgte und ausgebürgerte Künstler der DDR - befürchtete, dass die "Kader" von gestern auch im neuen Deutschland wieder Karriere machen würden, während die ehemals Verfolgten weiter benachteiligt und isoliert blieben. Die damit angesprochene "Vergangenheitsbewältigung" in der Kultur ließ sich indessen nicht durch einen Federstrich bzw. eine Grundsatzentscheidung lösen. Hier bedurfte und bedarf es langfristiger Diskussionen und Auseinandersetzungen in allen Bereichen des kulturellen Lebens - nicht zuletzt unter Beteiligung der Betroffenen selber, um die Wiedervereinigung nicht nur als organisatorischen Prozess, sondern auch im Sinne einer gesellschaftlichen Integration, einschließlich der Aufarbeitung der schwierigen Vergangenheit, zu vollziehen. Von der Bonner zur Berliner Republik Zu den Vereinigungsfolgen gehörten jedoch nicht nur die Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Wende in der DDR stellten, sondern auch die Konsequenzen, die die Wiedervereinigung Deutschlands für die alte Bundesrepublik ergab. Denn die "Bonner Republik", die seit 1949 mit großem Erfolg die Integration der Deutschen in Europa betrieb und sich dabei durch innere Stabilität, wirtschaftliche Prosperität und außenpolitische Berechenbarkeit ausgezeichnet hatte, wich nun der "Berliner Republik", bei der noch unklar ist, wie sie die in vier Jahrzehnten gewachsene und bewährte politische Kultur ihrer Vorgängerin fortzuentwickeln vermag. Der Wandel, der in der spektakulären und hart umkämpften Abstimmung des Bundestages vom 20. Juni 1991 über die (teilweise) Verlegung des Sitzes von Parlament und Regierung nach Berlin seinen Ausdruck fand, erfolgte nicht nur aus Gründen politischer Glaubwürdigkeit, sondern auch zur Vollendung der inneren Einheit Deutschlands. Nachdem
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seit 1945 in ungezählten Erklärungen die Hauptstadtfunktion Berlins beschworen worden war, konnte die Entscheidung kaum anders ausfallen. Durch die Wahl Berlins partizipieren die neuen Länder zumindest an den Regierungseinrichtungen, zumal die Wende keine nennenswerte Ostverlagerung bedeutender Firmen nach sich zog. So wie ein großer Teil wirtschaftlicher und finanzieller Macht der Bundesrepublik weiterhin entlang der "Rhein-Schiene" konzentriert ist, wird die Hauptstadtfunktion eine wirtschaftliche Stärkung der Berliner Region nach sich ziehen. Es fragt sich nur, ob dieser Wechsel weitergehende politische Veränderungen bringen wird. Nicht ohne Grund sorgte Fritz René Allemann 1956 mit seinem Buch "Bonn ist nicht Weimar" für Aufsehen: Orte stehen auch für Inhalte; Bonn war damals ein positives Symbol. Würde der Übergang von der Bonner zur Berliner Republik wieder eine politische Veränderung bedeuten - diesmal zum Negativen im Sinne einer Abkehr von innerer Stabilität und äußerer Verlässlichkeit -, wäre Besorgnis angebracht. Der Soziologe Niklas Luhmann und der Historiker Ernst Nolte trugen darüber schon im Herbst 1990 einen publizistischen Streit aus. Der Journalist Johannes Gross griff die Gedanken von Fritz René Allemann in seinem Buch "Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts" auf. Von einem vollständigen Ende der Bonner Republik kann aber wohl keine Rede sein. Mit dem Fortbestand von Verfassung und Westbindung gibt es zwei grundlegende Elemente, die Kontinuität gewährleisten. Auch die Wirtschaftsordnung, die Struktur der Eliten, das Bildungswesen und die - in einem umfassenden Sinne verstandene - demokratische politische Kultur, die inzwischen eine beträchtliche Reife bewiesen hat, werden mit großer Wahrscheinlichkeit dazu beitragen, die Stabilität der Bundesrepublik zu erhalten. Der Regierungsumzug nach Berlin - der im übrigen ja auch keinen vollständigen Wechsel aller Regierungsstellen beinhaltet - sollte daher in seinen Konsequenzen nicht überschätzt werden. Dennoch gibt es Veränderungen. Das geeinte Deutschland ist aus einer Randlage im Ost-West-Konflikt in das Zentrum des neuen Europa gerückt. Es befindet sich nicht länger im Windschatten der Weltpolitik, sondern wird zur Übernahme von Verantwortung gedrängt. In der neuen Hauptstadt Berlin spiegeln sich wie in einem Brennglas die Probleme eines Kontinents, in dem die Grenzen offener und die sozialen Klüfte tiefer und spürbarer geworden sind. Die Bundesregierung wird sich diesen Spannungen in Berlin - anders als in Bonn - kaum noch entziehen können. Der politische Stil wird sich damit ebenso ändern wie die politischen Inhalte, die von neuen Herausforderungen bestimmt sein werden. Vergleicht man Kontinuitäten und Veränderungen, deutet aber vieles darauf hin, dass sich die Berliner Republik nicht allzu weit von ihren Bonner Traditionen entfernen wird.
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