Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die in den alten Ländern seit langem wohlvertraut waren, wurden daher nun auch in Ostdeutschland zu Begriffen, die für viele den Alltag prägten. Trotz der Probleme, die mit dem tiefgreifenden sozialen Wandel nach der Wende von 1989 für die DDR und die ostdeutsche Gesellschaft unvermeidlich verbunden waren, trug diese Ausdehnung des sozialen Netzes der alten Bundesrepublik auf die neuen Länder wesentlich dazu bei, die negativen Auswirkungen des Umbruchs für die betroffenen Menschen in Grenzen zu halten. Anders als in den anderen Staaten des sowjetischen Hegemonialbereichs, die nicht an westlichen Ressourcen partizipieren konnten, vollzogen sich die Veränderungen in Ostdeutschland immerhin auf gesicherter Grundlage. Wenn der Umbruch trotz der eingebauten sozialen Sicherungen von vielen dennoch als schmerzhaft empfunden wurde - vor allem wegen der früher unbekannten Arbeitslosigkeit -, lag dies nicht zuletzt an den Mentalitätsunterschieden, die in vierzig Jahren DDR entstanden waren. Zwar führte der Umbruch nur selten in eine soziale Katastrophe. Aber der Verlust an gewohnter Sicherheit rief oft bei den Menschen in den neuen Ländern eine Befindlichkeit hervor, die mit der objektiven Lebenssituation wenig zu tun zu haben schien. Umgekehrt wuchs auch in den alten Bundesländern der Verdruss über die Entwicklung. Die durchaus vorhandene Bereitschaft der Westdeutschen, für den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg in den neuen Ländern die notwendigen finanziellen Mittel aufzubringen, ließ in dem Maße nach, in dem die Kosten explodierten und die steuerlichen Belastungen zunahmen. Hinzu kam bei manchen Unverständnis über die "Undankbarkeit" der Ostdeutschen, die PDS wählten und auf ihre eigene Identität pochten. Die doppelte Frustration in Ost- und Westdeutschland war somit - ungeachtet aller positiven Ergebnisse - ein wichtiges Merkmal bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Wiedervereinigung in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Wiedervereinigung der Kultur Die deutsche "Kulturnation", die sich seit der Herausbildung einer deutschen kulturellen Identität im 18. Jahrhundert entwickelt hatte und der Reichsgründung vorangegangen war, wurde auch durch die politische Teilung nach 1945 nicht beseitigt. Die gemeinsame Geschichte und Tradition, die einheitliche Sprache, die verbindende Wirkung grenzüberschreitender Medien und nicht zuletzt die Ost-West-Wanderung von Intellektuellen verhalfen dazu, im kulturellen Bereich zwischen den beiden deutschen Staaten eine Gemeinsamkeit zu bewahren, die politisch nicht mehr bestand. Gleichwohl führten vierzig Jahre deutscher Teilung zu einer kulturellen Differenzierung, welche die Wiedervereinigung auch im Bereich der Kunst, Literatur und Musik sowie der Museen, Bibliotheken, Bildung und Wissenschaft vielfach zu einem Problem werden ließ. Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 trug dem Rechnung, indem er in Artikel 35 einerseits darauf hinwies, dass "Kunst und Kultur - trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation" gewesen seien, andererseits aber durchaus "Auswirkungen der Teilung Deutschlands" konstatierte, denen man entgegenwirken müsse. Eine der Folgen betraf die Zuständigkeit für die Förderung von Kunst und Kultur: In der DDR war sie hochgradig zentralisiert, in der Bundesrepublik dagegen dezentral eine Angelegenheit der Länder und Kommunen. Im Einigungsvertrag wurde dazu vereinbart, das föderalistische Prinzip auf ganz Deutschland zu übertragen. Schutz und Förderung von Kultur und Kunst sollten "entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes"
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auch im "Beitrittsgebiet" den Ländern und Kommunen obliegen. Da diese voraussichtlich mit dem für sie neuen Aufgabenbereich zumindest kurzfristig überlastet sein würden, bekundete der Bund die Bereitschaft, "übergangsweise zur Förderung der kulturellen Infrastruktur einzelne kulturelle Maßnahmen und Einrichtungen" in den neuen Ländern mitzufinanzieren, damit die "kulturelle Substanz" dort keinen Schaden nahm. So wurde der seit 1949 bestehende DDR-Kulturfonds zur Förderung von Kultur, Kunst und Künstlern unter Beteiligung des Bundes zunächst weitergeführt. Aber diese Weiterführung war bis zum 31. Dezember 1994 befristet. Über eine Nachfolgeeinrichtung war im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt der neuen Länder zur Kulturstiftung der Länder zu befinden. Von großer Bedeutung für die Kultur in Deutschland war die ebenfalls im Einigungsvertrag geregelte Wiedervereinigung von Sammlungen und Museen. Davon betroffen waren in erster Linie die ehemals staatlichen preußischen Sammlungen in Berlin, die durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse getrennt worden waren. Bei den Bibliotheken wurde die frühere, bis 1661 zurückreichende "Preußische Staatsbibliothek" mit Sitz Unter den Linden, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mit 3 Millionen Bänden die drittgrößte Bibliothek Europas war und in der DDR den Namen "Deutsche Staatsbibliothek" trug, nach 1990 mit der "Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz" in Westberlin verschmolzen. Der Gesamtbestand der neuen "Deutschen Staatsbibliothek" umfasst jetzt rund 8 Millionen Titel. Im Bildungsbereich wurde die Anerkennung der in der früheren DDR erworbenen schulischen, beruflichen und akademischen Abschlüsse und Befähigungsnachweise im Einigungsvertrag grundsätzlich geregelt. Probleme bereitete die Überleitung des Personals, das in der DDR häufig nicht nur nach fachlichen Kriterien, sondern auch nach politischen Gesichtspunkten ausgewählt worden war. Die "Evaluierung" vorhandener Lehrkräfte musste deshalb durch einen Neuaufbau ergänzt werden. In der wissenschaftlichen Forschung, die in der DDR größtenteils nicht an den Universitäten und Hochschulen, sondern in eigenständigen Akademien und Instituten stattfand, wurde eine gemeinsame Struktur für ganz Deutschland geschaffen. Dabei blieben jedoch Einrichtungen der früheren DDR erhalten, wenn sie vom Wissenschaftsrat als leistungsfähig beurteilt wurden. Problem der Identität Mit all diesen Maßnahmen stellte der Einigungsvertrag wichtige Weichen für die Neuorganisation der Kultur im wiedervereinigten Deutschland. Wenn man Kultur jedoch in einem weiteren Sinne auch als "mentale oder geistig-moralische gesellschaftliche Befindlichkeit" und damit als geistigen Prozess versteht, wird man ihr mit Hinweisen auf Fragen der Finanzierung, der institutionellen Ausgestaltung und der politischen Verwaltung kaum gerecht. Tatsächlich gingen die Einflüsse der Maueröffnung und der Wiedervereinigung, die 1989/90 in Ostdeutschland zunächst als Selbstbefreiung, Öffnung und Chance zur demokratischen Erneuerung begriffen wurden, bald vielfach mit einem "Kultur- und Konsumschock" einher, der weitreichende Auswirkungen auf das kulturelle Leben hatte. In dem Maße, in dem sich der Alltag veränderte - oft auf dramatische Weise und in kürzester Frist -, wandelten sich auch Kunst und Kultur. Es entwickelte sich die Vorstellung einer "DDR-Identität", die es vor dem Ansturm der westlichen Konsumgesellschaft zu retten gelte. Die sich daraus ergebenden Spannungen wurden bald zu einem irritierenden Thema der innerdeutschen Diskussion. Sehnsucht nach Bewahrung des ostdeutschen Lebensgefühls kam auf. Heiner Müller sprach von der "Qualität der
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