ausgegeben werden muss. Trotz dieser finanziellen Zuwendungen erwies sich der Optimismus der verantwortlichen Politiker über einen raschen Aufschwung der ostdeutschen Wirtschaft als verfehlt. Die zu überwindende Durststrecke war erheblich länger als erwartet, zumal die zunehmend durch schlechte Produktivitätsperspektiven verschreckten privaten Investoren weiter zögerten und die öffentlichen Stützungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramme nicht auf Dauer im ursprünglichen Umfang aufrechterhalten werden konnten. Das Ergebnis war ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf durchschnittlich 15 Prozent, wobei die Quote in manchen Regionen noch sehr viel höher lag. Daraus wuchs Enttäuschung - nicht zuletzt auch deshalb, weil 1990 im Wahlkampf zu viel versprochen worden war. Einer Meinungsumfrage des "Politbarometers" der Forschungsgruppe Wahlen zufolge meinten 1993 75 Prozent der Ostdeutschen, dass sich die Gesellschaft in einer "schweren Krise" befinde. In einem "Katastrophenszenario" hielten über 50 Prozent die wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern nicht nur für "schlecht", sondern glaubten, sie werde auch "gleich schlecht" bleiben. Diese negativen Einschätzungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung standen jedoch in einem bemerkenswerten Kontrast zu den gleichzeitig abgegebenen Bewertungen der persönlichen Situation. So sahen 64 Prozent der Ostdeutschen das Jahr 1991 für sich als ein "gutes Jahr" an; 1992 waren es sogar 69 Prozent - genauso viele wie im Westen. Dieser Trend setzte sich in den folgenden Jahren fort. Damit tat sich eine Lücke in der Beurteilung der allgemeinen und der persönlichen Lage auf, die allein mit den üblichen Inkongruenzen bei Meinungsbefragungen nicht zu erklären ist. Denn die geringste Abweichung beider Größen lag bei 39 Punkten, das Maximum sogar bei 51 Punkten. Eine Erklärung dürfte die Tatsache bieten, dass die schwache Wirtschaftskraft in den neuen Ländern, die nicht nur aus der Berichterstattung der Medien, sondern auch im Alltag ersichtlich war, im persönlichen Bereich durch die gewaltigen Transferleistungen der Bundesregierung ausgeglichen wurde. Die wirtschaftliche Lage der großen Mehrheit der Ostdeutschen entwickelte sich positiv, während zugleich die Einschätzung der allgemeinen politischen Entwicklung hinter den Erwartungen zurückblieb. So wie die alte Bundesrepublik seit ihrer Entstehung 1949 für die Westdeutschen einen erheblichen Teil ihrer Legitimität aus ihrem materiellen Erfolg bezog, für den damals der Begriff des "Wirtschaftswunders" geprägt wurde, hing auch die Akzeptanz der neuen Bundesrepublik bei den Ostdeutschen maßgeblich von der Fähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung ab, für ihre materielle Zufriedenheit zu sorgen. Grundgesetz oder neue Verfassung? Neben der Wirtschafts- und Währungsunion zählte die Frage nach der künftigen deutschen Verfassung zu den Hauptthemen der Wiedervereinigungsdiskussion im Frühjahr 1990. Rechtlich betrachtet, gab es zwei Wege, auf denen sich die Wiedervereinigung vollziehen konnte: nach Artikel 23 GG, der besagte, dass die Verfassung außer in den bereits bestehenden Ländern der Bundesrepublik auch in "anderen Teilen Deutschlands [...] nach deren Beitritt in Kraft zu setzen" sei; oder nach Artikel 146 GG, demzufolge das Grundgesetz an dem Tage seine Gültigkeit verliert, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist". Als die Frage nach Ankündigung der Währungsunion und nach der Konstituierung des "Ausschusses Deutsche Einheit" am 7. Februar 1990 aktuell wurde, zeigte sich rasch, dass die Mehrheit der Deutschen für die Anwendung des Artikels 23 plädierte, der eine rasche und unkomplizierte Lösung versprach.
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Zwar befürwortete eine Minderheit in beiden Teilen Deutschlands, darunter vor allem die Bürgerrechtler und auch viele Sozialdemokraten, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gemäß Artikel 146, weil sie meinten, dass Bonn nicht einfach die DDR "annektieren" dürfe. Aber nach einer Umfrage des Wickert-Instituts von 1990, die am 26. Februar veröffentlicht wurde, traten 89,9 Prozent der Westdeutschen und 84,1 Prozent der Ostdeutschen für die Übernahme des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung ein. Nach der Volkskammerwahl vom 18. März war die Frage auch politisch entschieden. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hielt deshalb bereits am 6. April eine erste Ressortbesprechung zur Vorbereitung eines "Gesetzes über die Einführung von Bundesrecht in der DDR (1. Überleitungsgesetz)" ab. Am 18. April traf er dazu mit seinem ostdeutschen Amtskollegen Peter-Michael Diestel zu einer Unterredung zusammen, wobei es im Grunde nur noch um praktische Fragen ging. Parallel dazu konferierten die Justizminister der beiden deutschen Staaten, Hans Engelhard und Kurt Wünsche, um Einzelheiten der Harmonisierung der beiden Rechtssysteme auszuarbeiten. Die wichtigsten Beschlüsse in der Beitritts- und Verfassungsfrage wurden jedoch von der DDR-Volkskammer getroffen. Dort lehnte eine Mehrheit der Abgeordneten am 26. April die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ab. Ein Antrag der DSU-Fraktion, den sofortigen Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu beschließen, wurde am 17. Juni an den Verfassungs- und Rechtsausschuss überwiesen. Am 23. August 1990 votierte das ostdeutsche Parlament für einen Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23. Im Grundgesetz machte der Beitritt der fünf neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie des östlichen Teils Berlins einige Änderungen notwendig. So wurde nunmehr in der Präambel die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung festgestellt und gefolgert: "Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk." Artikel 23 wurde aufgehoben, um Diskussionen den Boden zu entziehen, ob es noch "andere Teile Deutschlands" gebe, deren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes möglich sei. Artikel 146 wurde dahingehend geändert, dass zwar künftig die Ausarbeitung einer neuen Verfassung nicht ausgeschlossen sei, das Grundgesetz aber nicht mehr als vorläufig gelte. Weitere Änderungen und Ergänzungen betreffen die Stimmenzahl der einzelnen Länder im Bundesrat (Art. 51 Abs. 2) und die Übernahme der Schulden der früheren DDR oder ihrer Rechtsträger (neuer Abs. 2 zum Art. 135a). Neu eingefügt wurde der Artikel 143, der in der bisherigen DDR Abweichungen vom Grundgesetz für eine Übergangszeit zulässt und die zwischen 1945 und 1949 erfolgten Enteignungen auf dem Gebiet der SBZ/DDR verfassungsrechtlich absichert. Eigentumsfrage Von dem Problem der Enteignungen waren Tausende von Deutschen in Ost und West betroffen, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und danach in der DDR ihr Eigentum verloren hatten. Enteignungen durch die sowjetische Besatzungsmacht und die Regierung der DDR sowie Eigentumsverluste durch Flucht und Vertreibung hatten zu Eingriffen in Grundbesitz, Betriebe oder sonstiges Vermögen geführt, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar waren. Diese Fehlentwicklungen zu korrigieren, war nicht nur ein wesentliches politisches Anliegen des Einigungsprozesses, sondern auch eine zwingende juristische Notwendigkeit, die sich aus der Rechtsordnung der Bundesrepublik ergab. Nachdem der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion die daraus resultierenden
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