hebung der Reisebeschränkungen gegenüber der Tschechoslowakei am 1. November und der Erklärung der DDR-Regierung, dass ihre Bürger direkt von der CSSR in die Bundesrepublik fahren könnten - ein Schritt, der die Mauer praktisch irrelevant werden ließ-, machten innerhalb einer Woche nicht weniger als 48177 DDR-Bürger von dieser Möglichkeit Gebrauch. Der Massenexodus, der nach der ungarischen Grenzöffnung am 2. Mai 1989 begonnen hatte, setzte sich nun mit immer neuen Rekordzahlen über die Tschechoslowakei fort. Das Ausmaß der Ausreisen war inzwischen so groß, dass selbst die wohlhabende Bundesrepublik in Schwierigkeiten geriet. Bis zum Ende der ersten Novemberwoche hatten allein 1989 über 225000 Ostdeutsche ihren Weg nach Westdeutschland gefunden, zu denen noch etwa 300000 deutschstämmige Immigranten aus Osteuropa hinzukamen. Innenminister Wolfgang Schäuble warnte daher, die Bundesrepublik werde zwar weiterhin alle Übersiedler aufnehmen, doch müssten diese damit rechnen, für längere Zeit in relativ bescheidenen Verhältnissen zu leben. Bundeskanzler Kohl erklärte in seinem "Bericht zur Lage der Nation" am 8. November vor dem Bundestag, Bonn sei bereit, der neuen DDR-Führung bei der Umsetzung ihrer Reformen zu helfen. Wenn es einen wirklichen Reformprozess gebe, werde man sogar "eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung" für die DDR erwägen. Auch der Kanzler plädierte also für Hilfen vor Ort statt für eine Übersiedlung in die Bundesrepublik. Aber er verknüpfte sein Hilfsversprechen für die DDR mit klaren Bedingungen und sprach von einer "nationalen Verpflichtung" seiner Regierung, das "Recht auf Selbstbestimmung für alle Deutschen" zu fordern. Doch während Kohl im Bundestag sprach, war die Zahl der Flüchtlinge aus der DDR auf nicht weniger als 500 pro Stunde angeschwollen. Innerhalb eines Tages, vom 8. zum 9. November, flohen mehr als 11000 Ostdeutsche über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Es musste daher dringend etwas geschehen. Reisegesetz Krenz und die neue SED-Führung waren sich von Anfang an darüber im klaren gewesen, dass die Frage der Reisefreiheit von größter Bedeutung, ja entscheidend, sein werde, wenn die Erneuerung des Regimes auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg haben sollte. Ministerpräsident Stoph hatte daher Innenminister Friedrich Dickel bereits am 19. Oktober - nur zwei Tage nach Honeckers Sturz - beauftragt, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten. Weitere fünf Tage später hatte das Politbüro verlauten lassen, dass es "in der Zukunft allen DDR-Bürgern erlaubt sein wird, ohne Behinderungen zu reisen". Der erste Entwurf eines neuen Reisegesetzes lag am 31. Oktober vor und zirkulierte zunächst in der Spitze von Partei und Regierung. Der Entwurf sah vor, dass alle Bürger der DDR das Recht haben sollten, ohne harte Währung für einen Monat im Jahr ins Ausland zu reisen, vorausgesetzt dass sie einen gültigen Reisepass und ein Visum besaßen, das von der Polizei innerhalb von dreißig Tagen nach Antragstellung zu erteilen sei. Obwohl der Entwurf noch einige Ungereimtheiten enthielt - vor allem hinsichtlich der Notwendigkeit einer Visumserteilung -, wurde er am 6. November veröffentlicht. Die Regierung erwartete, dass die Diskussion darüber bis Ende November abgeschlossen sein werde, so dass die neuen Verfahren irgendwann im Dezember in Kraft treten könnten. Doch die vorgesehenen Bestimmungen stießen auf massive Kritik. Noch am Tage der Veröffentlichung forderten mehrere Hunderttausend Menschen auf einer Massendemonstration in Leipzig "ein Reisegesetz ohne Einschränkungen". Vertretern der SED wurde es nicht mehr erlaubt, auf der Versammlung zu sprechen. "Zu spät, zu spät", erscholl es aus der Menge. Und zum ersten Mal: "Wir brauchen keine
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Gesetze - die Mauer muss weg!" Auch in anderen Städten der DDR gab es Protestaktionen gegen den Entwurf. Sogar das zensierte Fernsehen brachte kritische Stimmen von DDR-Bürgern. Und in Fabriken im ganzen Land kam es zu spontanen Warnstreiks von Arbeitern, die sich durch das geplante Gesetz diskriminiert fühlten, weil es für sie keine Devisen vorsah, die für Reisen ins Ausland unabdingbar waren. Der Entwurf wurde daraufhin am folgenden Tag vom Rechtsausschuss der Volkskammer als "unzureichend" verworfen. Schlechte Nachrichten kamen ebenfalls aus der Tschechoslowakei, von wo Parteichef Milos Jakes SED-Generalsekretär Krenz mitteilte, dass seine Regierung nicht länger bereit sei, DDR-Bürgern zu gestatten, die westdeutsche Botschaft in Prag zu betreten oder ohne Verzug über die Grenze nach Bayern in die Bundesrepublik einzureisen, weil dies Wasser auf die Mühlen der eigenen tschechoslowakischen Opposition sei. Wenn die Regierung in Ostberlin nicht umgehend Maßnahmen ergreife, um das Problem zu lösen, werde die CSSR ihre Grenze zur DDR schließen. Das SED-Politbüro war daher unter großem Druck von innen und außen, als es am 7. November die Beratungen über die Gewährung der Reisefreiheit fortsetzte. Düster malte man sich aus, dass Tausende von DDR-Familien entlang der geschlossenen tschechoslowakischen Grenze kampierten oder gewaltsam versuchen würden, die andere Seite zu erreichen. Niemand würde einer solchen Situation standhalten können. Deshalb schien es notwendig, die ersehnte Reisefreiheit in einem Schritt vorab zu gewähren und das erforderliche Reisegesetz später vom Parlament nachträglich beschließen zu lassen. Ministerpräsident Stoph, der an diesem Tage zurücktrat, aber noch im Amt blieb, bis das neue Kabinett unter Hans Modrow am 17. November gebildet war, wurde beauftragt, eine entsprechende Entscheidung der Regierung herbeizuführen. Am Nachmittag des 9. November informierte Krenz das Zentralkomitee der SED - nach der späteren Erinnerung von Sitzungsteilnehmern eher beiläufig - von der soeben getroffenen Entscheidung der Regierung über die neuen Reisebestimmungen. Gegen 18 Uhr übergab Krenz dem neuen ZK-Sekretär für Information, Günter Schabowski, der gerade auf dem Wege war, die im Internationalen Pressezentrum versammelten Journalisten über die Ergebnisse der ZK-Tagung zu unterrichten, ein zweiseitiges Papier, das die neuen Bestimmungen enthielt. Dieses Papier war lediglich eine Vorlage der Regierung, kein gültiger Beschluss, der immer noch ausstand (was Schabowski aber, wie er heute erklärt, damals nicht wusste). Bei der Aushändigung des Textes bemerkte Krenz nur knapp: "Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns." Natürlich hoffte er, dass das Einlenken der neuen DDR-Führung in dieser wichtigen Frage die Lage entspannen werde. Öffnung der Mauer Entsprechend groß war die Aufregung, als Schabowski wenig später mit bemühter Routinemäßigkeit die Nachricht bekanntgab, dass die DDR ihre Grenzen geöffnet habe. "Bedeutet dies", fragte ein Reporter, "dass jeder DDR-Bürger jetzt frei in den Westen reisen kann?" Schabowski zitierte daraufhin aus dem Text, dass Anträge auf Reisen ins Ausland ohne Vorbedingungen gestellt werden könnten, dass jeder DDR-Bürger ab dem kommenden Morgen um 8 Uhr ein Visum erhalten könne und dass die Behörden angewiesen seien, Pässe und Visa "schnell und unbürokratisch" auszustellen. Die Regelung trete "sofort" in Kraft. Damit waren die Grenzen praktisch offen - auch wenn Schabowskis "sofort" eine aus dem Augenblick heraus entstandene unzulässige Erklärung war, die außeracht ließ, dass die von ihm verkündete Reiseregelung bisher nur im Entwurf vorlag und im übrigen
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