Situation als sehr alarmierend. Es sei jetzt wichtig, "den Knoten zu zerschlagen". Am 10. September bot Kohl deshalb 11 bis 12 Milliarden DM an. Gorbatschow erklärte dazu, er hoffe, dass man sich auf 15 bis 16 Milliarden einigen könne. Er habe "viele Kämpfe mit der Regierung, mit den Militär- und Finanzfachleuten ausgefochten". Das Ergebnis seien die von ihm genannten 15 Milliarden DM. Wenn dieses Ziel nicht zu erreichen sei, müsse "praktisch alles noch einmal von Anfang an erörtert werden". Danach hielt der Kanzler den Zeitpunkt für gekommen, zusätzlich zu den 12 Milliarden DM einen zinslosen Kredit in Höhe von 3 Milliarden DM anzubieten. Gorbatschow war erleichtert: So könne das Problem gelöst werden. Einige Stunden später rief Kwizinski aus Moskau im Kanzleramt an und teilte der Bundesregierung mit, dass der Generalsekretär die Weisung erteilt habe, den Überleitungsvertrag mit der Bundesrepublik nunmehr abzuschließen. Volle Souveränität Zwei Tage darauf, am 12. September, endeten auch die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der Außenminister mit einem Treffen in Moskau und der Unterzeichnung des "Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland". Der Vertrag regelte in zehn Artikeln die außenpolitischen Aspekte der deutschen Vereinigung und kam damit einem Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gleich, auch wenn dieser Begriff mit gutem Grunde ( siehe unten( tunlichst vermieden wurde. Das Ergebnis war die Wiederherstellung der deutschen Einheit und die Wiedererlangung der "vollen Souveränität Deutschlands über seine inneren und äußeren Angelegenheiten". Da der Vertrag allerdings erst nach Hinterlegung der letzten Ratifikations- bzw. Annahmeurkunde in Kraft trat (als letzte Vertragspartei ratifizierte die UdSSR den Vertrag am 3. März 1991), wurden die Vorbehaltsrechte der Alliierten durch Erklärung der Außenminister der Vier Mächte bei ihrem Treffen in Moskau am 12. September 1990 vom Tag der Vereinigung Deutschlands bis zum Inkrafttreten des Vertrages ausgesetzt. Deutschland wurde daher schon am 3. Oktober 1990 ein souveräner Staat ohne Einschränkungen, nachdem am Vortag der deutschen Einheit auch die alliierte Kommandantur in Berlin ihre Arbeit beendet hatte und alle auf Besatzungsrecht beruhenden innerdeutschen Bestimmungen - etwa die Bindung des Flugverkehrs nach Berlin an Luftkorridore - entfallen waren. Rechtlich betrachtet bedeutete die Wiedergewinnung der vollen Souveränität für Deutschland, dass es keines besonderen Friedensvertrages mehr bedurfte. Da bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen neben den beiden deutschen Staaten nur die vier Großmächte teilgenommen hatten, nicht jedoch die vielen anderen Staaten, die sich ebenfalls mit dem nationalsozialistischen Deutschland im Kriegszustand befunden hatten und deshalb auch zu Friedensverhandlungen hätten hinzugezogen werden müssen, wurde dadurch für einen gewissen Ausgleich gesorgt, dass die 35 Mitgliedsstaaten der KSZE von den Vereinbarungen am 2. Oktober 1990 offiziell in Kenntnis gesetzt wurden. Die deutsche Einigung, die sich am 3. Oktober durch den Beitritt der fünf ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vollzog, kam daher nicht nur mit dem verbrieften Einverständnis der Vier Mächte, sondern auch mit Zustimmung aller in der KSZE vertretenen Staaten zustande. Die außenpolitische Isolierung, in die das Deutsche Reich nach 1871 geraten war und die bis zur Teilung Deutschlands 1945 eine schwere, nie zu verkraftende Bürde gewesen war, sollte damit diesmal von vornherein verhindert werden. Das wiedervereinigte Deutschland wurde Teil einer neuen europäischen Ordnung, in der es sich von Anfang an nicht als Fremdkörper, sondern als
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von allen akzeptierter Mitspieler fühlen durfte. Was in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bisher nur deutsche Teilstaaten erreicht hatten, war jetzt erstmals auch einem vereinten Deutschland möglich: die gleichberechtigte und versöhnliche Teilnahme an der europäischen Politik - mit allen Rechten und Pflichten, die auch für die anderen Staaten galten, und der Chance zur endgültigen Abkehr vom deutschen "Sonderweg", der seit Bismarck, spätestens aber seit Kaiser Wilhelm II., den Kurs Deutschlands und Europas geprägt und belastet hatte. Probleme der inneren Einigung Parallel zu den Verhandlungen mit den Vier Mächten über die außenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung wurden zwischen den beiden deutschen Staaten die Probleme der inneren Einigung besprochen. Dabei ging es um höchst komplexe politische, rechtliche und wirtschaftliche Fragen, bei deren Lösung man auf keinen Präzedenzfall zurückgreifen konnte. Vordringlich war die Klärung der Bedingungen für die Wirtschafts- und Währungsunion, die - nicht zuletzt auf Drängen der DDR-Führung - Anfang Februar von der Bundesregierung angekündigt worden war und zum 1. Juli 1990 in Kraft treten sollte. Nur wenn es gelang, den Ostdeutschen wieder eine wirtschaftliche Perspektive zu bieten, war die Übersiedlungswelle zu stoppen und an eine Stabilisierung der Situation zu denken. Darüber hinaus mussten jedoch für den politischen und rechtlichen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten frühzeitig Überlegungen darüber angestellt werden, wie die staatliche Ordnung aussehen sollte. Unklar war bereits, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen die Wiedervereinigung überhaupt erfolgen sollte: ob als Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes oder nach Ausarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung. Doch selbst wenn man am Grundgesetz und an der Rechtsordnung der Bundesrepublik festhielt, waren beitrittsbedingte Änderungen und Anpassungen nicht zu vermeiden, die wohlüberlegt sein mussten. Dabei war eine Fülle von Einzelfragen zu klären. Sie betrafen unter anderem die gesetzgebenden Körperschaften, den Aufbau der öffentlichen Verwaltung, Überleitungsbestimmungen im Bereich der Justiz, die Finanzverwaltung, die Ordnung der Wirtschaft, den Bereich Verkehr, Post und Telekommunikation, das gesamte soziale Netz sowie Bildung, Wissenschaft und Kultur - um nur diese Beispiele zu nennen. Nirgends ließ sich das System der Bundesrepublik einfach auf die Gebiete der bisherigen DDR übertragen. Es bedurfte vielmehr detaillierter Anpassungsregelungen, die vor der Vereinigung festzulegen waren. Daher wurde der Abschluss eines entsprechenden "Vertrages zur deutschen Einheit" zwischen der Bundesrepublik und der DDR vereinbart. Die vertraglichen Grundlagen der Wiedervereinigung umfassten daher neben dem in Moskau unterzeichneten "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" (siehe auch Seite 45) den "Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" vom 18. Mai 1990 sowie den "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag" vom 31. August 1990. Erst die Verbindung der drei Vertragswerke ermöglichte die Wiedervereinigung Deutschlands. Wirtschafts- und Währungsunion Die Verhandlungen über die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion, die am 7. Februar 1990 nach der Ankündigung des Kanzlers begonnen hatten, wurden nach dem Sieg der "Allianz für Deutschland" bei den
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