Zugleich jedoch hatten die Bundesrepublik und die DDR die Oder-Neiße-Grenze wiederholt als für sie verbindlich anerkannt: die DDR im Görlitzer Vertrag vom 6. Juli 1950, die Bundesrepublik in ihrer allgemeinen Gewaltverzichtserklärung vom 3. Oktober 1954 und besonders im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970. Eine Revision der Oder-Neiße-Grenze wurde daher weder von der DDR noch von der Bundesrepublik angestrebt. Dennoch wurde das Thema im November 1989 erneut zum Problem, als Bundeskanzler Kohl es - ungeachtet der Genscher-Äußerung vor der UNO und der folgenden Bundestagsresolution - bei seinem Polen-Besuch zur Zeit der Maueröffnung sorgfältig vermied, die Grenzgarantie zu wiederholen. Trotz öffentlicher Kritik blieb der Kanzler unbeirrt bei seiner Position, dass eine endgültige Festlegung erst durch "eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung und ein frei gewähltes gesamtdeutsches Parlament" vorgenommen werden könne. Kohl zog sich damit auf den rechtlichen Standpunkt zurück, wobei das Motiv für sein Verhalten in den Erfolgen der Partei der Republikaner und dem Bemühen zu suchen war, ihnen im Vorfeld der für den 2. Dezember 1990 geplanten Bundestagswahlen keine indirekte Schützenhilfe zu leisten. In Polen sorgte dieses Verhalten jedoch für beträchtliche Unruhe und Aufregung, die durch die Perspektive einer baldigen deutschen Wiedervereinigung noch zusätzlich geschürt wurde, so dass die polnische Regierung eine diplomatische Offensive startete, um einen Platz am Konferenztisch der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu erhalten. Aber der Kanzler weigerte sich nicht nur weiterhin, ein klärendes Wort zu sprechen, sondern lehnte auch die Teilnahme Polens an den Verhandlungen ab. Lediglich eine weitere Resolution des Bundestages zur Oder-Neiße-Frage wurde am 8. März 1990 ohne Gegenstimme bei nur fünf Enthaltungen verabschiedet. Als der französische Staatspräsident Mitterrand daraufhin am 10. März anlässlich eines Besuchs seines polnischen Amtskollegen Jaruzelski und von Ministerpräsident Mazowiecki in Paris erklärte, dass vor einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein deutsch-polnischer Grenzvertrag geschlossen werden müsse, ging der Bundeskanzler in die Offensive. In zwei langen Telefongesprächen mit Mitterrand und dem Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Jacques Delors, kündigte er an, dass er den deutschen Einigungsprozess nunmehr beschleunigen werde und von den Verbündeten erwarte, "dass sie sich nicht verstecken, wenn Sturm aufkommt". Das amerikanische Außenministerium wurde noch einmal offiziell in Kenntnis gesetzt, dass ein deutsch-polnischer Grenzvertrag erst nach der Wiedervereinigung möglich sei. Der Ausgang der Wahlen zur DDR-Volkskammer am 18. März trug weiter dazu bei, die Position Kohls zu stärken. Als Präsident Bush dem Kanzler zum Wahlsieg seiner Partei in Ostdeutschland gratulierte, fügte er hinzu, dass er Mazowiecki am folgenden Tag in Washington sagen werde, dass er der westdeutschen Regierung vertraue und dass der polnische Ministerpräsident dies ebenfalls tun solle. Damit wurde der polnischen Seite klar, dass eine gleichberechtigte Teilnahme an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nicht durchzusetzen war. Außenminister Skubiszewski erklärte sich deshalb am 26. März mit Genschers Position einverstanden, dass die Oder-Neiße-Grenze eine deutsch-polnische Angelegenheit und ihre Behandlung durch die Vier Mächte daher unpassend sei. Zudem ließen die Polen ihre Forderung fallen, dass ein Zwei-plus-Vier-Treffen in Warschau abgehalten werden solle. Garantien innerhalb der NATO Der Wahlausgang in der DDR führte auch bei den Regierenden in Paris und Moskau zu einer grundsätzlichen Änderung ihrer Politik.
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Die französische Führung, die offensichtlich besorgt war, dass ein wiedervereinigtes Deutschland das Interesse an der Europäischen Gemeinschaft verlieren könnte, drang nun sogar darauf, dass die Bundesrepublik die DDR so schnell wie möglich integrieren möge. Außenminister Dumas erklärte, dass es am besten wäre, wenn "die ostdeutschen Provinzen" einfach in die Bundesrepublik übernommen würden, um "den komplizierten Prozess der Aufnahme eines dreizehnten Staates in die Gemeinschaft" zu vermeiden. Und Mitterrands außenpolitischer Berater Jacques Attali informierte Kohl, dass Paris jetzt "mit Hochdruck" an einer EG-Initiative zur Errichtung einer Europäischen Union arbeite, um so das vereinigte Deutschland fest in die europäische Integration einzubetten. Auf der anderen Seite deutete Moskau am Tag nach der Volkskammerwahl offiziell an, dass es sich mit der Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in der NATO abfinden wolle. Nikolai Portugalow meinte, dass dies zwar offiziell immer noch abgelehnt werde, es aber nur "die Ausgangsposition bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen" sei. Wjatscheslaw Daschitschew, einer der führenden sowjetischen Deutschland- und Europaexperten, ging sogar noch einen Schritt weiter, als er am 20. März in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" die Ansicht formulierte, dass die UdSSR an einer deutschen NATO-Mitgliedschaft sogar interessiert sein müsse. "Man muss das geeinte Deutschland in den Rahmen der NATO einfügen [...]. Es gibt das Bild einer Kanone, die an Bord eines Schiffes nicht festgezurrt ist, und einige Leute vergleichen ein neutrales Deutschland mit einer solchen Kanone." Demnach wurde inzwischen auch in der Sowjetunion die Auffassung vertreten, dass ein in das westliche Bündnis eingebundenes Deutschland weniger gefährlich und daher eher zu befürworten sei als ein in der Mitte Europas frei "herumvagabundierendes" Deutschland. Auch Außenminister Schewardnadse schien ähnlich zu denken, wie man einer Äußerung von ihm während eines Treffens mit seinen Amtskollegen Baker und Genscher am 22. März entnehmen konnte. Bei der Vorbereitung der ersten Zwei-plus-Vier-Konferenz am 5. Mai in Bonn fühlte sich der Kanzler deshalb stark genug, in der Frage der NATO-Mitgliedschaft zu fordern, dass 1. die Schutzklauseln in Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages für ganz Deutschland gelten müssten, 2. der Abzug der sowjetischen Truppen auf der Basis fester Zeitvereinbarungen erfolgen müsse und 3. Bundeswehrstationierung und Wehrpflicht für Gesamtdeutschland zu gelten hätten. "Charta der Zusammenarbeit" Im Gegenzug sollte Moskau ein umfassender bilateraler Vertrag über Kooperation und Gewaltverzicht angeboten werden. Als Kohl die Idee am 23. April gegenüber dem sowjetischen Botschafter Juli Kwizinski darlegte und dabei bemerkte, er wolle gewissermaßen eine "Charta der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Sinne der großen geschichtlichen Tradition vereinbaren", reagierte Kwizinski beinahe euphorisch. Seit er nach Deutschland gekommen sei, sei es sein Traum gewesen, "zwischen Deutschland und der Sowjetunion etwas im Bismarckschen Sinne zu schaffen". Ein Vertrag, wie ihn der Bundeskanzler vorschlage, sei im Sinne von Präsident Gorbatschow. Bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen komme es Moskau vor allem darauf an, eine deutliche Verringerung der Stärke der Bundeswehr zu erreichen. Auch die Truppen der Vier Mächte sowie die Zahl der Kernwaffen auf deutschem Boden müssten reduziert werden. Über alles dies ließ sich nach sowjetischer Auffassung jedoch Einvernehmen erzielen. Als wichtig erschien vor allem, dass der Kanzler mit seinem Angebot eines umfassenden
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