Reichspräsidenten vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich nach Artikel 59 WV zur Wehr setzen können. Vom ungewissen Aus- gang einer Volksabstimmung bzw. eines Prozesses abgesehen, hätten entsprechende Anträge eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Reichs- tag benötigt - daran war jedoch nicht mehr zu denken. Wahlsieg der NSDAP Denn die Reichstagswahl vom 14. September 1930, die mit 82 Prozent eine hohe Wahlbetei- ligung verzeichnete, endete mit einer Kata- strophe für die Demokratie. Die NSDAP, noch 1928 mit 2,6 Prozent (12 Mandaten) eine Splitterpartei, erzielte 18,3 Prozent und konnte die Zahl ihrer Sitze fast verneunfachen. Mit 107 Abgeordneten stellte sie die zweitstärkste Fraktion (hinter der SPD, vor der KPD). Einen derartigen Wahlerfolg hatte es in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus noch nicht gegeben. Ein Blick auf die Stimmverteilung zeigt, dass die SPD erhebliche Verluste, die KPD starke Gewinne registrierte - in der Arbeiterschaft hatte ein Linksruck stattgefunden. Aber zusammengenommen hatten die Linksparteien kaum Einbußen erlitten. Zentrum und BVP erzielten sogar leichte Gewinne. Auch der Anteil der Sonstigen, das heißt der Kleinpar- teien, nahm etwas zu. Demgegenüber mussten DDP und DVP schwere Verluste hinnehmen, und der Stimmenanteil der DNVP hatte sich sogar halbiert. Wenngleich Art und Ausmaß damaliger Wählerwanderungen nicht exakt bestimmbar sind, lässt sich schließen, dass überwiegend nationalkonservative und liberale, protestantische Mittel- und auch Oberschichtwähler zur NSDAP gewandert waren. Besonders stark wurde Hitlers Partei offenbar vom "alten Mittelstand" (selbst- ständige Handwerker, Einzelhändler, kleine und mittlere Unternehmer, freie Berufe und Bauern) und vom "neuen Mittelstand" (Beamte und vor allem Angestellte) gewählt. Auch von der um sieben Prozent gestiegenen Wahlbe- teiligung konnte sie stärker als andere Parteien profitieren, das heißt Jungwähler und bisherige Nichtwähler gewinnen. Dieser Befund bestätigt die soziale Zusam- mensetzung der Mitgliederschaft der NSDAP: Arbeiter bildeten zwar die stärkste Einzelgrup- pe, waren jedoch im Vergleich zu ihrem Anteil an den Erwerbstätigen deutlich unterrepräsen- tiert, während die verschiedenen Mittelschich- ten einen überproportional hohen Anteil stellten. Ferner zog die NSDAP besonders die jüngere Generation an: Das Durchschnittsalter ihrer 130000 Mitglieder und Funktionäre im Jahre 1930 lag beträchtlich unter dem der übrigen Parteien. Die Gründe für die Umorientierung der Wähler werden erst verständlich, wenn man sich die materiellen und psychologischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise vor Augen führt. Zum Zeitpunkt der Septemberwahlen lag die Ar- beitslosenquote bereits seit einem Dreiviertel- jahr über 14 Prozent; hinter dieser Zahl verbargen sich die Schicksale von mehr als drei Millionen schlecht versorgten Arbeit- nehmern und ihren Familien.
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Die Folge war eine politische Polarisierung: Arbeitslose Arbeiter, die insgesamt den beiden Linksparteien treu blieben, wählten zum Teil erstmals kommunistisch. Der "alte Mittelstand" hingegen, der sich sowohl von Seiten der Großunternehmen als auch seitens der Arbeitnehmer unter Druck genommen fühlte, dessen Vertrauen in den Weimarer Staat seit der Inflation 1923 erschüttert war und der jetzt in der Krise die sinkende Kaufkraft seiner Kunden zu spüren bekam, sah sich erneut von Verarmung und sozialem Abstieg bedroht. Er reagierte darauf mit einer Radikalisierung nach rechts zur NSDAP. Vergleichbares galt für den "neuen Mittelstand". Denn erstens war Hitlers Partei als einzige politisch unverbraucht - ihre Glaubwürdigkeit und Kompetenz hatten noch keinen Test bestehen müssen; zum anderen ging sie in Programm und Propaganda gezielter und geschickter als jede andere auf die speziellen Nöte und Bedürfnisse der eigentumsorien- tierten und "standesbewussten" Mittelschichten ein. Entsprechend der doppelten Frontstellung des alten Mittelstandes gegen KPD/SPD/Gewerkschaften einerseits und Banken/Industrie/Warenhäuser andererseits enthielten die politischen Aussagen der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter- partei" sowohl antimarxistische als auch antikapitalistische Elemente. Ihr begrenzter Antikapitalismus ("Mittelstandssozialismus") war - anders als der radikale, an Marx geschulte - für die Mittelschichten insofern akzeptabel, als "die NSDAP auf dem Boden des Privateigentums steht", wie Hitler 1928 öffentlich klarstellte. Er richtete sich nicht gegen das, wie es in der NS-Ideologie hieß, "schaffende", sondern nur gegen das "raffende Kapital", das heißt gegen Banken (zu hohe Kredit-, zu niedrige Sparzinsen), Börsen (undurchschaubare Gewinnchancen und Verlustrisiken) und Warenhäuser (bedrohliche Konkurrenz). Diese vermeintlichen "Auswüchse" lastete die NS-Propaganda den angeblichen Machenschaf- ten eines "internationalen Finanzjudentums" an. Auf diese Weise bog sie den ursprünglich klassenkämpferischen Antikapitalismus rassenideologisch um und lenkte ihn auf die Juden als Sündenböcke ab. Da auch "der Marxismus" (das heißt Organisationen und Politik der kommunistischen und sozialdemo- kratischen Arbeiterschaft) und die aus dem "Dolchstoß" hervorgegangene Republik als schändliche Machwerke der Juden hingestellt wurden, flossen im Rahmen dieser Verschwö- rungstheorie Antikapitalismus und Antimarxismus, Antidemokratismus und extremer Nationalismus im Antisemitismus der NSDAP zusammen. Will man die inneren und äußeren Bedrohungen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft abwenden, dann muss man die Juden bekämpfen - so lautete, zusammenge- fasst, die politische Botschaft der NSDAP. Wegen ihrer Einfachheit und Eingängigkeit fiel sie in Deutschland - einem der Länder mit einer langen antijudaistischen und antisemi- tischen Tradition - unter den Bedingungen der psychologisch wie materiell noch unbewältigten Kriegsniederlage und der immer fühlbarer werdenden Auswirkungen der Weltwirtschafts- krise auf fruchtbaren Boden. Verschärfung der Krise Dass die KPD jetzt über 77, die NSDAP über 107 Reichstagssitze verfügte, hatte schwer- wiegende wirtschaftliche Folgen. Ausländische Kapitalanleger, insbesondere die bereits unter der Krise leidenden amerikanischen und französischen Banken, die um die politische Stabilität der Weimarer Republik fürchteten, begannen mit dem Abzug ihrer kurzfristigen
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