Es sprach sich herum, dass Kahr, Lossow und Seißer auf eine nationale Diktatur hinar- beiteten. Ihr Vorbild war der erfolgreiche "Marsch auf Rom" der italienischen Faschisten vom 28. Oktober 1922, der seither in deut- schen Rechtskreisen als wegweisend galt. Als Lossow am 20. Oktober 1923 vom Reichs- wehrminister seines Postens enthoben wurde, ernannte Kahr den General zum "Bayerischen Landeskommandanten" und unterstellte ihm die in Bayern stehende 7. Reichswehrdivision "bis zur Wiederherstellung des Einvernehmens zwischen Bayern und dem Reich". Die darauf- hin fällige Reichsexekution gegen das Land Bayern wusste Seeckt jedoch zu verhindern. Offiziell vertrat er - wie schon beim Kapp-Lüttwitz-Putsch - die Devise: Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr. Inoffiziell sympa- thisierte er mit dem Münchner Triumvirat: "Die Weimarer Verfassung ist für mich an sich kein noli me tangere (lat.: Rühr' mich nicht an - Anm. d. Red.); ich habe sie nicht mitgemacht, und sie widerspricht in den grundlegenden Prinzipien meinem politischen Denken. Ich verstehe daher vollkommen, dass Sie ihr den Kampf angesagt haben", schrieb er unmiss- verständlich am 2. November in einem für Kahr bestimmten Brief. Auch wenn er ihn nicht abschickte, kannte das Triumvirat seine politi- sche Einstellung. Seeckt hielt sich jedoch bei der weiteren Entwicklung geschickt im Hinter- grund. Hitler-Putsch Im Laufe des Jahres 1923 konnte die NSDAP von der krisenhaften Entwicklung stark profi- tieren. Ihre Mitgliederzahl stieg sprunghaft auf 55000; sie hatte sich in Bayern zur aktivsten rechtsradikalen Kraft entwickelt. Der "Deut- sche Kampfbund", ein Zusammenschluss der drei radikalsten, von Reichswehroffizieren ausgebildeten Wehrverbände (neben anderen die SA), wurde von Hitler und Ludendorff - inzwischen die Galionsfigur des deutschvölki- schen Lagers - geleitet. Hitler verkehrte in den besten Münchner Kreisen und galt in Bayern vielen bereits als "deutscher Mussolini", dem ein "Marsch auf Berlin" gelingen konnte. Dem- gegenüber setzte das regierende Triumvirat auf Seeckt und dessen momentane Verfügung über die vollziehende Gewalt. Hitler beschloss, die Initiative an sich zu reißen und am 9. November - für die Rechtsradikalen ein Symbol der "nationalen Schmach" - den gegenrevolutionären Umsturz zu wagen. Vorher wollte er die Kahr-Gruppe, die am Abend des 8. November im Münchner Bürger- bräukeller eine politische Versammlung abhielt, überrumpeln und mitreißen. Die SA umstellte das Lokal, Hitler ließ den Saal mit einem Maschinengewehr in Schach halten und verschaffte sich mit einem Pistolenschuss in die Decke Gehör. Er proklamierte die "nationa- le Revolution", erklärte die bayerische und die Reichsregierung für abgesetzt und kündigte die Bildung einer "nationalen Regierung" an. Anschließend beschworen der NSDAP-Führer und der erst jetzt herbeigeholte, aber bereitwillig mitwirkende Ludendorff in einem Nebenraum Kahr, Lossow und Seißer, den "Marsch auf Berlin" mitzuorganisieren und in eine Regierung Hitler einzutreten. Das erpresste Triumvirat stimmte dem Putsch zum Schein zu. Einzelheiten wurden besprochen, und das Publikum bejubelte die Einigung. Sicherheitshalber nahm die SA im Saal noch einige prominente Geiseln; dann löste sich die Versammlung auf. Noch in derselben Nacht - während die SA schon mal die Redaktionsräume und die Druckerei der sozialdemokratischen Tages- zeitung "Münchner Post" verwüstete - trafen Kahr, Lossow und Seißer Maßnahmen zur Unterdrückung des Putsches. Am Morgen des 9. November musste Hitler erkennen, dass sein Umsturzversuch isoliert bleiben würde. Daran konnte auch ein eilig improvisierter Demonstrationsmarsch des "Deutschen Kampfbundes" um die Mittagszeit nichts mehr ändern. An der Feldherrnhalle stieß der von
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Hitler und Ludendorff angeführte, mehrere tausend Personen umfassende Zug auf eine Absperrung der bayerischen Landespolizei. Es kam zu einem Handgemenge und zu einem kurzen Feuergefecht, bei dem 14 Demonstran- ten und drei Polizisten starben. Die Menge stob auseinander; Hitler floh zu einem Freund und wurde dort einige Tage später verhaftet. Der dilettantische Frühstart der NSDAP machte auch alle anderen Pläne für einen "Marsch auf Berlin" zunichte. Der anschließende Hochverratsprozess gegen Hitler, Ludendorff und andere geriet zu einer Farce. Die Angeklagten - in den Augen der Richter Männer von "rein vaterländischem Geist" und "edelstem selbstlosen Willen" - durften Propagandareden gegen die Republik und ihre Politiker halten; der Ankläger agierte eher als Verteidiger. Am 1. April 1924 erhielten Hitler und drei weitere Angeklagte lediglich fünf Jahre (ehrenvolle) Festungshaft mit der Aussicht auf Begnadigung nach sechs Monaten; die übrigen kamen mit noch geringeren Strafen davon. Ludendorff wurde sogar freigesprochen. Ferner lehnte es das Gericht ausdrücklich ab, "einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler", gemäß den Bestimmungen des Republikschutzgesetzes als wegen Hochverrats verurteilten Ausländer nach Österreich abzuschieben. Ablösung Stresemanns In der sozialdemokratischen Reichstagsfrak- tion herrschte Empörung darüber, dass die Regierung Stresemann gegen die Rechts- diktatur des Triumvirates in Bayern praktisch nichts unternahm, gegen die kommunistischen Regierungsbeteiligungen in Sachsen und Thüringen dagegen die Reichswehr einsetzte. Am 2. November 1923 zog die SPD ihre Minister aus dem Kabinett zurück. Als der Reichskanzler am 23. November bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage eine Niederlage erlitt, trat er zurück. Neuer Regie- rungschef einer bürgerlichen Minderheits- regierung (DDP, Zentrum/BVP, DVP), der Stresemann als Außenminister angehörte, wurde der Zentrumsführer Wilhelm Marx. Das Jahr 1923 markierte den Höhepunkt der krisenhaften Nachkriegsentwicklung in Deutschland. Die Hauptkrisen dieses Jahres waren zweifellos die Ruhrbesetzung und die durch den passiven Widerstand verstärkte Währungszerrüttung. Diese von außen in die Republik hineingetragene Doppelkrise wurde sowohl von außen als auch von innen gelöst: Frankreich blieb mit seiner überharten Handhabung der Reparationsfrage gegenüber Deutschland im Kreise der Siegermächte isoliert und musste schließlich einlenken.Die nach dem Abbruch des (letztlich selbst- zerstörerischen) passiven Widerstandes durchgeführte Währungsreform, von Sozialdemokraten wie Deutschnationalen mitgetragen, wurde rasch ein Erfolg. Bei den übrigen Gefahren handelte es sich um gezielt ausgelöste Nebenkrisen, durch die die dafür Verantwortlichen je auf ihre Weise von den Hauptkrisen zu profitieren versuchten und dabei mehr oder weniger aus denselben Gründen scheiterten: Der "deutsche Oktober" musste bereits in Sachsen und Thüringen vorzeitig abgebrochen werden, der "Marsch auf Berlin" gelangte nicht einmal über München hinaus, und der rheinische Separatismus brach kläglich zusammen, weil die Akteure zum Teil außerordentlich dilettantisch vorgingen, vor allem aber, weil eine kommunistische "Diktatur des Proletariats" nach sowjetischem Muster, eine rechtsradikale "Führerdiktatur" nach italienischem Vorbild wie auch eine den Interessen Frankreichs dienende Zerstörung der Reichseinheit jeweils nur einer bestimmten Minderheit der Bevölkerung als erstrebenswer- tes Ziel galt. Deshalb erreichten die Nach- kriegskrisen 1923 mit ihrem Gipfel zugleich auch ihr Ende.
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