Deutsche Geschichten
Machtergreifung
Machtergreifung
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Machtwillen die innere Schwäche bzw. Zerstrittenheit der politischen Gegner war. Das gilt auch für die Deutsche Staatspartei, die sich in der politischen Situation des Frühjahrs 1933 nicht anders verhielt und trotz warnender Stimmen dem Gesetz schließlich zustimmte.
Verstärkt haben dürfte die Zustimmung zum Gesetz, die mit 444 Ja-Stimmen gegen 94 Nein-Stimmen endete, auch die Rede Hitlers, die rhetorisch geschickt Werbung und Versprechungen mit Drohungen verband. Die Regierung, so Hitler, biete den Parteien die "Möglichkeit einer ruhigen Entwicklung und einer sich daraus in Zukunft anbahnenden Verständigung" an. Auch die Rechte des Reichstages, des Reichsrates oder des Reichspräsidenten werde man nicht antasten. Zugleich aber drohte Hitler, er sei "ebenso entschlossen und bereit, die Bekundung der Ablehnung und damit die Ansage des Widerstandes entgegenzunehmen." Die Entscheidung über "Frieden und Krieg" läge bei den Abgeordneten selbst. Aber was sollten alle Beschwichtigungen, wenn mit jedem Artikel des "Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich" (Ermächtigungsgesetz) ein Eckstein aus der Verfassung herausgebrochen wurde. Reichsgesetze konnten hinfort auch von der Reichsregierung beschlossen werden; diese Gesetze durften von der Verfassung abweichen; der Reichskanzler konnte anstelle des Reichspräsidenten die Gesetze ausfertigen und verkünden. Artikel 4 des Ermächtigungs-
gesetzes übertrug auch das Recht zum Abschluss von Verträgen mit fremden Staaten allein auf die Reichsregierung. Der fünfte und letzte Artikel war dazu angetan, trügerische Hoffnungen zu nähren. Die Gültigkeit des Gesetzes war auf vier Jahre beschränkt und an die Existenz der gegenwärtigen Regierung gebunden. Doch es sollte noch zweimal verlängert werden und blieb wie die Reichs-
tagsbrandverordnung bis zum Ende des "Dritten Reiches" in Kraft.

Ablehnung durch die SPD

Nur ein Abgeordneter, der sozialdemokratische Parteivorsitzende Otto Wels, wagte es, in maßvoller und würdiger Form unter den drohenden Blicken der SA-Truppen die Ablehnung seiner Partei zu erläutern.

Es war ein Zeugnis von Unerschrockenheit und ein letztes öffentliches Bekenntnis zur Demokratie. Wels begründete die Ablehnung mit den Verfolgungen, die die SPD in der letzten Zeit erfahren habe und mahnte, dass auf Gewalt und Unrecht keine Volksgemeinschaft begründet werden könne. "Ihre erste Voraussetzung ist gleiches Recht." Eine Regierung könne nur Strenge walten lassen, "wenn es nach allen Seiten gleichmäßig und unparteiisch geschieht und wenn man es unterlässt, besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei. Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht." Wels schloss sein Bekenntnis zu Rechtsstaat und Demokratie mit einem Gruß an die "Verfolgten und Bedrängten". Hitler stürzte darauf mit äußerster Erregung an das Rednerpult: "Die schönen Theorien, die Sie, Herr Abgeordneter, soeben hier verkündeten, sind der Weltgeschichte etwas zu spät mitgeteilt worden. Vielleicht hätten diese Erkenntnisse, praktisch angewendet vor Jahren, die heutigen Klagen von Ihnen erspart." Es war eine zynische und rhetorisch gekonnte Replik, die sich in das Gewand der radikalen Kritik am sozialdemokratischen Reformismus hüllte und der SPD jeden Anspruch auf die Vertretung nationaler und sozialer Interessen bestritt. Schließlich enthüllte Hitler das revolutionäre, gewalttätige Verständnis der Nationalsozial-
isten von Politik und Recht: "Auch Ihre Stunde hat geschlagen, und nur weil wir Deutschland sehen und seine Not und die Notwendigkeit des nationalen Lebens, appellieren wir in dieser Stunde an den Deutschen Reichstag, uns zu genehmigen, was wir ohnedem hätten nehmen können. Des Rechts wegen tun wir es - nicht weil wir die Macht überschätzen, sondern weil wir uns am Ende mit denen, die vielleicht heute von uns getrennt sind, aber doch an

Deutschland glauben, einst vielleicht leichter finden können. Denn ich möchte nicht in den Fehler verfallen, Gegner bloß zu reizen, statt sie entweder zu vernichten oder zu versöhnen." Zur Täuschung und wegen der plebiszitären Werbung wählte Hitler den scheinlegalen Weg des Ermächtigungs-
gesetzes, um eine politische Ordnung mit möglichst breitem Konsens zu errichten, in der es entweder nur Zustimmung oder Vernichtung geben könne. Tatsächlich beschloss das Ermächtigungsgesetz eine weitere Etappe der nationalsozialistischen Machtergreifung. Der "Völkische Beobachter", das politisch-
propagandistische Massenblatt der NSDAP, bilanzierte zufrieden: "Für vier Jahre kann Hitler alles tun, was notwendig ist für die Rettung Deutschlands. Negativ in der Ausrottung der volkszerstörenden marxistischen Gewalten, positiv im Aufbau einer neuen Volksgemeinschaft."

Stabilisierung des Regimes

Gerade zwei Monate hatte Hitler gebraucht, um sich von seinen konservativen "Bändigern" frei zu machen. Er war nun unabhängig vom Reichspräsidenten und auch von den deutschnationalen Partnern. Eine organisierte Gegenwehr, möglichst noch auf dem Boden der Verfassung, war nun unmöglich geworden. Hitler konnte nun das Gewicht der nationalsozialistischen Massenbewegung auch gegen die konservativen Regierungspartner ausspielen. In ihrem blinden Eifer gegen Parlamentarismus und linke Parteien hatten Papen und Hugenberg übersehen, dass sie nach deren Ausschaltung kein Gegengewicht gegen die Übermacht der NSDAP hatten und dass der Weg zurück zu einer autoritären Verfassung schon längst nicht mehr möglich war. Auch die weitere Stoßrichtung der politischen Dynamik der NSDAP war nun deutlich erkennbar. Allen Beteuerungen zum Trotz war das Gesetz ganz offenkundig nicht legal zustandegekommen. Alle institutionellen Sicherungen, die gegen den Missbrauch eingebaut worden waren, bestanden ein Jahr später nicht mehr. Der Reichstag war völlig gleichgeschaltet, der Reichsrat aufgelöst und das Amt des Reichspräsidenten existierte nach dem Tode von Hindenburgs (1934) als unabhängige Verfassungsinstitution auch nicht mehr. Verfassungswidrig war schon bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz die Zusammensetzung des Reichsrates, der einem verfassungsändernden Gesetz mit einer qualifizierten Mehrheit ebenfalls zustimmen musste. Dort aber saßen seit Mitte März nicht mehr Vertreter demokratisch gewählter Länderregierungen, sondern Beauftragte von Reichskommissaren. Das Ermächtigungsgesetz hat der Stabilisierung des Regimes große Dienste geleistet, und das war sein eigentlicher Zweck. Denn es bot den im formalen Denken großgewordenen konservativen Sympathi-
santen und Beamten die Möglichkeit, das Gewissen zu beruhigen und ihre Vorstellungen von Staat und Recht scheinbar zu befriedigen.

Ende der Parteien

Mit der Zerstörung des Parlamentarismus und der Ausschaltung des Reichstages hatten die Parteien ihren Sinn verloren, längst bevor sie zwangsweise aufgelöst wurden oder sich selbst auflösten. Dass die Auflösung und Gleichschal-
tung der Parteien sich so rasch vollzog, hatte auch damit zu tun, dass dieser Vorgang einherging mit Gleichschaltung der wichtigsten gesellschaftlichen Organisationen und ihres jeweiligen sozialen Umfeldes. So war die Zerstörung der Gewerkschaften, die am 1./2. Mai in einem Wechselspiel von Propaganda und Gewalt erfolgte, Voraussetzung und letzte Etappe im Prozess der Gleichschaltung der SPD. Auch beim Untergang der Parteien gibt es gemeinsame Verlaufs- und Verhaltens-
muster, die wir bei allen Vorgängen finden, die in einer charakteristischen zeitlichen Staffelung und in einer unterschiedlichen Dosierung von Zwang und Gewalt praktiziert wurden. Immer kamen Selbstanpassung und Resignation, die Sorge um die materielle Existenz und

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