1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Machtergreifung
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Buchauszug
Wie diese Doppelstruktur im Sprechen über die Vergangenheit funktioniert, zeigt sich im Familiengespräch: Denn verblüffenderweise findet sich hier - und keineswegs nur in der Familie Hofer - eine ganze Reihe von Darstellungen, die beim distanzierten Lesen vollständig paradox erscheinen, beim engagierten Zuhören in der unmittelbaren Gesprächssituation aber offenbar als kohärentes Bild von der Vergangenheit empfunden werden: So erzählt Herr Hofer etwa, 1944, also nach seinem Einsatz in der Ukraine, bei einer Panzerabteilung der SS in Frankreich gewesen zu sein und von einem Sturmbannführer erfahren zu haben,

Rainer Hofer: »dass also im Osten, in Russland Partisanen sowieso, aber auch andere Leute durch Genickschuss und so weiter umgebracht würden und so weiter. Ich erinnere mich (lacht), dass wir uns unter Kameraden später drunter/drüber unterhalten haben, wir haben also gedacht: Der spinnt!«

Diese Einschätzung hat Herr Hofer, nachdem er ein halbes Jahr zuvor genau das getan hat, von dem er nun nicht glauben kann, dass andere es tun. Es wäre gewiss eine Unterschätzung der Wirkungsweise der Doppelstruktur von Wissen und Nichtwissen, wenn man sagen würde: Herr Hof er lügt. Denn gerade der Umstand, dass er ja von bei-dem erzählt - von seinen eigenen Taten und von der Ungläubigkeit hinsichtlich der Taten der »anderen« - zeigt, dass die eigene Tat subjektiv in einen sinnhaften Zusammenhang partikularer Rationalität und Moralität eingeordnet werden kann und als solche dem Gesamtvorwurf des Verbrecherischen gar nicht zugerechnet wird. Mit anderen Worten: Täter wie Herr Hofer rechnen ihre Taten nicht zum Holocaust - und gerade diese Selbstwahrnehmung und -darstellung liefert ein Deutungsangebot, das von den Nachfolgegenerationen bereitwillig angenommen wird. Auch im Gruppengespräch konzentriert sich Frau Seiler mit ostentativen Fragen darauf, von ihrem Vater zu erfahren, warum niemand sich hat »vorstellen« können, was geschah - womit sie ihn vor dem Wissen schützt, über das er und sie selbst eigentlich verfügen. In der familialen Interaktion der Hofers tradiert sich nicht das Wissen um die Verbrechen, sondern die Art und Weise, wie man etwas zugleich wissen und nicht wissen kann.

Quelle: H. Welzer/ S. Moller / K. Tschuggnall
Opa war kein Nazi
ISBN: 3-596-15515-0
S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt 2002, 10,90 Euro

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