1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Die 68er-Bewegung und ihre Folgen
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 
Buchauszug
Insgesamt schien es jedoch zunächst, als sei das Protestpotenzial in der Bundesrepublik geringer als in anderen westlichen Ländern. Die deutschen Tugenden von Ordnung, Sauberkeit und Fleiß, überliefertes Obrigkeitsdenken, die Enge des geistigen und räumlichen Milieus sowie nicht zuletzt die starke antikommunistische Grundstimmung, die aufgrund der deutschen Sonderrolle im Ost-West-Konflikt besonders ausgeprägt war, machten die zurückhaltende Einschätzung von Friedeburg verständlich. Unterbrochen wurde die Ruhe nur durch die «Schwabinger Krawalle» von 1962, die ein frühes Signal für den subkulturellen Protest gegen die Erstarrung der bestehenden Ordnung setzten. Die in München aus den künstlerisch-anarchistischen Kreisen der «Subversiven Aktion» um Dieter Kunzelmann ausgelösten Unruhen, die unter dem Einfluss der niederländischen Provos noch auf einem ästhetisierten, spontaneistischen Politikverständnis basierten, das Politik vor allem als symbolische Provokation sowie als Happening zur Versinnbildlichung gesellschaftlicher Widersprüche begriff, wurden damit zu Vorboten jener Auflehnung gegen das politische System der Bundesrepublik, die bald zum herausragenden Merkmal der Bewegung von «1968» werden sollte.
Wie in den USA, so stellten auch in Westeuropa und der Bundesrepublik jene sozialen Randgruppen, die sich durch ihre Musik, ihre Kleidung, ihr Aussehen und ihr Auftreten vom leistungsorientierten Normen- und Wertesystem der Mittelstandsgesellschaft distanzierten, den Nährboden für die antiautoritäre Protestbewegung der sechziger Jahre dar. In den USA vollzog sich die Politisierung des gegenkulturellen Protestes unter dem Einfluss des Kampfes gegen die Rassendiskriminierung und den Vietnam-Krieg lediglich früher und radikaler als in Westeuropa. In beiden Fällen waren die Träger des politischen Protestes mit den drop out-Gruppen der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre jedoch nicht mehr unbedingt identisch. Vielmehr verlagerte sich die Bewegung nun auf den Campus der Universitäten, wo sie nicht nur viel von
ihrer spielerischen Spontaneität verlor, sondern auch an politischer Bedeutung und Dynamik gewann.
In der Bundesrepublik war die Entwicklung von Rudi Dutschke und Bernd Rabehl - beide zunächst Mitglieder der «Subversiven Aktion» in Berlin, ehe sie im Januar 1965 der Berliner Sektion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) beitraten - beispielhaft für die Veränderung des Protestes. Im Vergleich zu Dieter Kunzelmann, der nicht nur in seiner Münchner Zeit, sondern auch danach als Mitglied der Kommune I in Berlin an seinem ästhetisierten, individualistischen Politikverständnis festhielt, repräsentierten sie eine Richtung innerhalb der antiautoritären Protestbewegung, die auf die Veränderung der Gesellschaft durch politische Analyse und Massenmobilisierung abzielte. Zwar blieben sie auch weiterhin stark von den niederländischen Provos und deren Happenings als Methode zur Bloßstellung des Establishments beeinflusst. Zugleich nahmen sie jedoch Elemente traditioneller linker Ideologien auf, die sie zu einer neuen politischen Strategie verarbeiteten und mit Unterstützung der Studentenschaft - als revolutionäre «Massenbasis» anstelle des nicht zur Verfügung stehenden Proletariats - in die Wirklichkeit umzusetzen suchten. Erst mit Dutschke und Rabehl wurde der SDS zum organisatorischen und inhaltlichen Motor des Protestes.
Dabei war der SDS bis in zweite Hälfte der fünfziger Jahre hinein in erster Linie ein akademisches Trittbrett für sozialdemokratische Parteikarrieren gewesen. Auch Helmut Schmidt zählte zu seinen ehemaligen Bundesvorsitzenden. Obwohl formal unabhängig, hatte der SDS sich damit im Integrationsfeld der Sozialdemokratie befunden und umgekehrt der SPD viele Sympathien unter der Studentenschaft eingebracht. Zur Kollision war es erst 1958/59 im Vorfeld der Diskussionen um das Godesberger Programm gekommen. Danach hatte die SPD-Führung den Eindruck gewonnen, dass der SDS sich nunmehr «auf den wohl überlegten Plan einer organisatorischen Zersetzung der SPD mit dem erklärten Ziel einer Parteispaltung konzentrierte», wie es in einer Presseverlautbarung hieß. Logische Folge dieser Entwicklung war ein Beschluss des SPD-Parteivorstandes vom 6. November 1961, der die Unvereinbarkeit einer gleichzeitigen Mitgliedschaft in beiden Organisationen feststellte. Danach stand der SDS tatsächlich allein, zumal bereits im Mai 1960 mit dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) eine konkurrierende Einrichtung gegründet worden war, die das sozialdemokratische Potenzial an den Hochschulen weitgehend ausschöpfte.
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 
Druckversion Druckversion
Fenster schliessen
Fenster schliessen