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Buchauszug
In der Grenzfrage hatte es einigen Nachdenkens bedurft, um die rechtlich-politischen Gegebenheiten und die politisch-psychologischen Notwendigkeiten auf einen Nenner zu bringen. Im Bericht zur Lage der Nation hatte ich zu Jahresbeginn 1970 gemahnt: »Was die Väter verloren haben, das werden wir durch keine noch so schöne Rhetorik und durch keine noch so geschliffene Juristerei zurückgewinnen.« Und dennoch, in Deutschland fiel es weiterhin schwer, sich auf die veränderten Realitäten dieser Welt einzustellen. In Polen war die Oder-Neiße-Grenze zur nationalen Frage schlechthin geworden. Daß die Russen schon 1950 die DDR zur Anerkennung veranlaßt hatten, reichte nicht aus. Das Wort der Bundesrepublik wog für die Polen schwerer, obwohl es eine gemeinsame Grenze nicht gab. Und sie hätten es gern gesehen und als hilfreich empfunden, wenn die Bundesrepublik - für den Fall eines Friedensvertrages - schon vorweg die Verpflichtung eingegangen wäre, daß es bei der Oder-Neiße-Grenze bleibe. Mir ist man damit nicht gekommen. Ich hätte die entgegenstehenden Rechtsbedenken auch nicht überspielen können.Nichts wird, wie es war Auf eine der letzten Seiten meines Manuskripts zu den »Erinnerungen« schrieb ich - im Sommer '89 - die Vermutung, in Leipzig und in anderen Städten der DDR würden eines Tages »nicht Hunderte, sondern Hunderttausende« auf den Beinen sein, um ihre Rechte einzufordern. Was sich dann von Woche zu Woche abspielte und zur zugleich tiefgreifenden und friedlichen Umwälzung vom Herbst '89 wurde: Auch ich habe das nicht im einzelnen vorausgesehen. Im übrigen werden die nördlicheren Landesteile der DDR nicht zurückgesetzt, wenn man die bahnbrechende Rolle der Bürger Sachsens hervorhebt. Berlin war - konnte es anders sein? - der Ort, an dem die Empfindungen der Deutschen zusammenflossen und auf den sich das staunende Interesse der Weltöffentlichkeit konzentrierte. In der Nacht vom 9. zum 10. November wurde die Mauer auf breiter Front durchlässig gemacht; die dramatischen Veränderungen entlang der deutsch-deutschen Grenze folgten. Gut einen Monat zuvor hatte Michail Gorbatschow in Ostberlin gesagt, Zuspätkommende würden vom Leben gestraft. Bald darauf vollzog sich - in der »Hauptstadt der DDR« - ein beginnender und doch schon bemerkenswerter Wechsel an der Spitze des Staates und in der Führung der seit mehr als vierzig Jahren herrschenden Partei, deren Uhr nun abläuft. An jenem 10. November sprach ich - neben Bürgermeister Momper, Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher - auf einer großen Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus und dachte an den August '61, als ich von der gleichen Stelle aus die bittere Enttäuschung meiner Mitbürger auf den Punkt zu bringen hatte. Es war nicht einfach wie in alten Tagen. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, von außen drohenden Gefahren zu widerstehen. Auch nicht mehr auf Appelle, der Trennwand zu trotzen und sich durch sie nicht von der Selbstbehauptung, nicht vom Werk des Aufbaus abbringen zu lassen. Im Innern tief bewegt, Zeuge der vieltausendfachen Wiederbegegnung: Die Stadt war von unverkrampfter Fröhlichkeit erfüllt, von Aggression keine Spur. Die so lange und so wörtlich beschworene Einheit nahm »von unten« Gestalt an und erfaßte nicht nur die getrennten Familien. Mich überkam ein Gefühl großer Erleichterung, gemischt mit der Hoffnung, daß wir nun auch die noch vor uns liegenden Aufgaben meistern würden. Meine Gedanken gingen zurück in den August '61. Welch ein Weg lag hinter uns! Wir hatten uns nicht mit dem Ruf begnügt, die Mauer müsse weg, sondern uns und anderen gesagt, Berlin müsse trotz der Mauer weiterleben und unser Volk zusammengehalten werden, auch in europäische Pflichten eingebettet sein - trotz mehrfacher und vertiefter Teilung. Und nun waren wir wieder auf dem seit 1963 nach John F. Kennedy benannten Platz vor dem Schöneberger Rathaus. Diesmal waren viele Tausende »von drüben« dabei. Ich sprach zu ihnen und schämte mich nicht meiner Tränen. Und mir ging nahe, wie oft mich danach Briefe und Zurufe erreichten, in denen von Dank die Rede war. Wie wichtig ist es gewesen, den brutalen Folgen der Trennung durch noch so kleine Schritte entgegenzuwirken, solange größere nicht möglich waren. Heute gibt es darüber kaum noch Streit. Und heute erst eröffnet sich uns die Tragweite jener winzigen Meilensteine! Wo bliebe eine Nation, wenn die Familien nicht verbunden sein könnten! Die Deutschen, so sagte ich an jenem Berliner Novembernachmittag, rückten auf eine Weise zusammen, die niemand erahnt habe, und keiner sollte so tun, als wisse er, wie genau die Menschen hüben und drüben in ein neues Verhältnis zueinander geraten würden. Daß sie in Freiheit zusammenfinden könnten, darauf komme es an: »Und sicher ist, daß nichts im anderen Teil Deutschlands wieder so werden wird, wie es war. Die Winde der Veränderung, die seit einiger Zeit über Europa ziehen, haben an Deutschland nicht vorbeiziehen können. Meine Überzeugung war es immer, daß die betonierte Teilung und die Teilung durch Stacheldraht und Todesstreifen gegen den Strom der Geschichte standen.« Welch innere Genugtuung, wachrufen zu dürfen, was ich im Sommer zu Papier gebracht hatte: »Berlin wird leben, und die Mauer wird fallen!«
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