1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Mauerfall
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Buchauszug
Der Warschauer Vertrag klärte »die Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen« und zeigte an, auf wie dünnem Eis wir uns bewegten. Für uns war gleichwohl die Feststellung wichtig, daß - wie bei den anderen Ostverträgen - weder die Gültigkeit früher geschlossener Verträge berührt noch internationale Vereinbarungen in Frage gestellt würden. Der polnische Regierungschef versäumte nicht zu erwähnen: Seine Seite sei sich bewußt, daß im Namen der Bundesrepublik ein Mann seine Unterschrift leiste, »der schon am Beginn der Machtübernahme durch den Faschismus das grenzenlose Unglück begriff, das dadurch für das deutsche Volk, für die Völker Europas, für den Frieden in der Welt entstehen würde«. In meiner Antwort hieß es: Mir sei bewußt, daß nicht durch ein noch so wichtiges Papier brutal aufgerissene Gräben zugeschüttet würden. Verständigung und gar Versöhnung könnten nicht durch Regierungen verfügt werden, sondern müßten in den Herzen der Menschen auf beiden Seiten heranreifen. Ich berichtete meinen Partnern von Gesprächen mit General de Gaulle, in denen von Deutschland und Polen die Rede war. Er und ich seien uns einig gewesen, daß die Völker Europas ihre Identität bewahren müßten und gerade dadurch dem Kontinent eine große Perspektive eröffnen würden. Ich wisse also, »daß es nicht mehr isolierte, sondern nur noch europäische Antworten gibt. Auch das hat mich hierher geführt.« Und, in meiner Rede zur Vertragsunterzeichnung: »Meine Regierung nimmt die Ergebnisse der Geschichte an; Gewissen und Einsicht führen uns zu Schlußfolgerungen, ohne die wir nicht hierher gekommen wären.« Doch werde niemand von mir erwarten, »daß ich in politischer, rechtlicher und moralischer Hinsicht mehr übernehme, als es der Einsicht und Überzeugung entspricht.« Vor allem müßten die Grenzen »weniger trennen, weniger schmerzen«.
Es war eine ungewöhnliche Last, die ich auf meinen Weg nach Warschau mitnahm. Nirgends hatte das Volk, hatten die Menschen so gelitten wie in Polen. Die maschinelle Vernichtung der polnischen Judenheit stellte eine Steigerung der Mordlust dar, die niemand für möglich gehalten hatte. Wer nennt die Juden, auch aus anderen Teilen Europas, die allein in Auschwitz vernichtet worden sind? Auf dem Weg nach Warschau lag die Erinnerung an sechs Millionen Todesopfer. Lag die Erinnerung an den Todeskampf des Warschauer Ghettos, den ich von meiner Stockholmer Warte verfolgt hatte und von dem die gegen Hitler kriegführenden Regierungen kaum mehr Notiz nahmen als vom heroischen Aufstand der polnischen Hauptstadt einige Monate danach.
Das Warschauer Programm sah am Morgen nach meiner Ankunft zwei Kranzniederlegungen vor, zunächst am Grabmal des Unbekannten Soldaten. Dort gedachte ich der Opfer von Gewalt und Verrat. Auf die Bildschirme und in die Zeitungen der Welt gelangte das Bild, das mich kniend zeigte - vor jenem Denkmal, das dem jüdischen Stadtteil und seinen Toten gewidmet ist. Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob sie etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht. Meine engen Mitarbeiter waren nicht weniger überrascht als jene Reporter und Fotografen, die neben mir standen, und als jene, die der Szene ferngeblieben waren, weil sie »Neues« nicht erwarteten.
Ich hatte nichts geplant, aber Schloß Wilanow, wo ich untergebracht war, in dem Gefühl verlassen, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen. Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.
Ich weiß es auch nach zwanzig Jahren nicht besser als jener Berichterstatter, der festhielt: »Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien — weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können.«
Zu Hause in der Bundesrepublik fehlte es weder an hämischen noch an dümmlichen Fragen, ob die Geste nicht »überzogen« gewesen sei. Auf polnischer Seite registrierte ich Befangenheit. Am Tage des Geschehens sprach mich keiner meiner Gastgeber hierauf an. Ich schloß daraus, daß auch andere diesen Teil der Geschichte noch nicht verarbeitet hatten. Carlo Schmid, der mit mir in Warschau war, erzählte später: Man habe ihn gefragt, warum ich am Grabmal des Unbekannten Soldaten nur einen Kranz niedergelegt und nicht gekniet hätte. Am nächsten Morgen, im Wagen auf dem Weg zum Flugplatz, nahm mich Cyrankiewicz am Arm und erzählte: Das sei doch vielen sehr nahe gegangen; seine Frau habe abends mit einer Freundin in Wien telefoniert, und beide hätten bitterlich geweint.
Ich hatte dem Außenminister nahegelegt, den Staatssekretär Georg Ferdinand Duckwitz mit den Verhandlungen über den Warschauer Vertrag zu betrauen. Zu seinen Meriten gehörte, was er während des Krieges, in amtlicher Funktion, zur Rettung der dänischen Juden getan hatte. »Ducky« - ein Musterbeispiel dafür, daß einer nicht Nazi werden mußte, wenn er Nominal-Parteigenosse geworden war. Nach dem Krieg trat er in den Auswärtigen Dienst ein, ließ sich vorzeitig pensionieren und von mir reaktivieren. Dies auch deshalb, weil wir über Ostpolitik ähnlich dachten und er - wie sich bei Verhandlungen über Zahlungsausgleich zeigte — gut mit den Amerikanern konnte. Walter Scheel verlängerte das Engagement nicht, weil er ihm mangelnde Loyalität ankreidete. Was war passiert? Für die dritte Verhandlungsrunde hatte ich Duckwitz einen durchaus harmlosen Brief mitgegeben, der ihm zu einem Gespräch mit Gomulka verhelfen sollte, aber vergessen, Scheel hierzu ein Wort zu sagen. In Warschau bemerkte und schrieb ein Berichterstatter, daß dem Parteichef ein Brief des Kanzlers übergeben worden sei; der Bericht löste Spekulationen und die in Bonn üblichen Aufgeregtheiten aus. Was waren das für »Geheimkontakte«? Und was mochte ich dem Mann in Warschau mitzuteilen haben? Ich war gerade zu Besprechungen in Oslo, als Scheel aufgeregt anrief und nicht leicht zu beruhigen war. Das isoliert gebliebene Mißverständnis und die ihm zugrunde liegende organisatorische Panne ließen sich aufklären, als ich wieder zu Hause war.
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