1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Mauerfall
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Buchauszug
Von Gegenmaßnahmen wurde geredet. Aber gegen was hätten sie bei der gegebenen Macht- und Interessenlage gerichtet sein sollen? Außer dagegen, daß die sowjetische Seite der DDR Befugnisse übertrug, die sie aufgrund des Viermächtestatus selbst wahrzunehmen hatte? Und was sollten daraus für Folgerungen gezogen werden? Die Reaktionen auf den Mauerbau waren eine peinliche Mischung aus ohnmächtiger Wut und impotenter Protestiererei. Eine gewisse Bedeutung hatte jener Blitzbesuch von Vizepräsident Lyndon B.Johnson am Wochenende nach dem 13. August. Der Texaner stellte die West-Stadt für anderthalb Tage auf den Kopf und stabilisierte die Stimmung. Die Amerikaner nutzten die Gelegenheit, sich und uns zu überzeugen, daß eine zusätzliche militärische Einheit ungehindert über die Autobahn Berlin erreichen konnte. In Johnsons Begleitung waren der Ostexperte Botschafter Charles Bohlen und der ausgewiesene Berlin-Freund Lucius D. Clay; er blieb bis zum Frühjahr 1962 in der Stadt - ein Sonderbeauftragter des Präsidenten. Die Hauptbotschaft, die Charles Bohlen mir zu übermitteln hatte: Wenn ich etwas zu kritisieren hätte, möge ich den Präsidenten anrufen, statt ihm Briefe zu schreiben.
Was hatte ich vorgeschlagen? Ich fand, man solle es bei den drei essentials nicht belassen. Uns konnte die Garantie für alliierte Truppen, deren Anwesenheit und Zugang sowie für die »Lebensfähigkeit« der Stadt schon deshalb nicht ausreichen, weil in der Schwebe blieb, ob es ein Recht auf freien Zugang auch für die Deutschen gebe. Und ob klar war, daß die Lebensfähigkeit West-Berlins an die Zugehörigkeit zum Rechts- und Wirtschaftsgefüge der Bundesrepublik gebunden sei. Im übrigen verstand jeder, der Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, wie die essentials ausgelegt wurden: Die sowjetische Seite konnte mit Ostberlin machen, was sie wollte, und sie konnte ihre Rechte an die DDR-Führung delegieren. Ebendies geschah, und es wurde auch in Bonn geradezu abgesegnet. Als Adenauer am 16. August — zur gleichen Stunde, da ich die Berliner zu einer großen Protestkundgebung vor dem Rathaus versammelte - Botschafter Smirnow empfing, ließ er verlautbaren: Man stimme darin überein, »das aktuelle Streitobjekt nicht auszuweiten«. Der Botschafter hatte ausgerichtet, gegen die Bundesrepublik seien
die sowjetischen Maßnahmen nicht gerichtet, und der Kanzler erwiderte, die Bundesregierung werde keine Schritte unternehmen, welche die Beziehungen zur Sowjetunion erschweren und die internationale Lage verschlechtern könnten.
Meine Ratschläge an die Alliierten und an die Bundesregierung hatten vor der Mauer immer wieder darauf gezielt, das Berlin-Thema auszuweiten und nach Möglichkeit zu verändern: Warum nicht über die Wiedervereinigung ganz Berlins verhandeln? Warum nicht den sowjetischen Vorschlag einer Friedenskonferenz über Deutschland aufnehmen? Warum nicht, falls das Thema eingeengt werden müßte, die West-Berliner über ihre enge Verbindung mit der Bundesrepublik abstimmen lassen? Vom Thema des ganzen Berlin wollte niemand etwas wissen, es paßte nicht in die Gewohnheiten; die Denkbahnen waren zu eingefahren, als daß sie binnen kurzem hätten verlassen werden können. Vermutlich wäre man auch im Osten aufgelaufen. Immerhin deuteten Zwischenträger ein vorsichtiges sowjetisches Interesse an. Die Variante einer West-Berliner Volksabstimmung, die von Adenauer mit den Amerikanern erörtert wurde, hatte einen gefährlichen Haken: Der Bundeskanzler wollte darüber votieren lassen, ob die (West-)Berliner ihre Schutz- (und, jedenfalls formal, Okkupations-)macht behalten wollten. Hierum durfte es meiner Meinung nach schon aus Gründen der Kleiderordnung nicht gehen. Das Thema mußte die Zugehörigkeit zum Bund sein.
Die Bonner Ängste - und die der alliierten Statusverwalter – vor den Vereinten Nationen habe ich nie begreifen können. Was ich nach dem Mauerbau - am 18. August - im Bundestag sagte, hatte auch vorher gegolten: »Den Weg vor das Weltforum kann man sich nicht aufheben für den Fall, daß eine Welt zu brennen beginnt.« Auch sonst ist nichts, was das Thema hätte ausweiten können, ernsthaft aufgegriffen worden. Im politischen Nichtstun und beim Abspielen alter juristischer Platten hatte man sich auf eine Krise vorbereitet, die ausblieb, und nicht gewußt, mit der fertig zu werden, die heraufzog.
Die Krise, die nicht kam, war die um einen separaten Friedensvertrag und um die Anwesenheit westalliierter Garnisonen. Diese Krise hätte die Kriegsgefahr heraufbeschworen. Was die alliierten Nachrichtendienste wußten, habe ich nicht ausmachen können. Von den entsprechenden deutschen Einrichtungen habe ich weder unmittelbar noch nachträglich hilfreiche Hinweise erhalten. Es kommt mir immer noch wie ein böser Witz vor, daß am Morgen des 14. August auf dem Tisch von Heinrich Albertz, meinem Chef der Senatskanzlei, eine Mitteilung des BND vom 11. lag: Besonderes liege nicht vor...
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