1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Machtergreifung
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Buchauszug
Vor der Auswanderung standen viele bürokratische Hürden. Ein Reise-pass durfte bei der Polizei erst beantragt werden, wenn Unbedenklichkeitsbescheinigungen verschiedener Finanzämter beigebracht waren, aus denen hervorging, dass alle Steuern bezahlt waren, dass auch die »Reichsfluchtsteuer« entrichtet war und dass der Anteil an der »Sühneabgabe«, der den deutschen Juden zynisch auferlegten Sondersteuer nach dem Novemberpogrom, bezahlt war. Das Geld war auch für diejenigen, die noch Vermögen hatten, nur mit Schwierigkeiten aufzutreiben, denn seit Ende April 1938 waren jüdische Vermögen sequestriert. Emigration als Flucht aus Hitler-Deutschland, die Rettung von Juden, der alltägliche Widerstand von Deutschen gegen die nationalsozialistische Diktatur waren lange Zeit von der deutschen
Geschichtswissenschaft wenig beachtete Themen. Die Historiker in der Bundesrepublik konzentrierten sich lange auf den Widerstand der Eliten, vor allem auf die Männer des 20. Juli 1944, die Studenten der Weißen Rose, den Kreisauer Kreis. Die Historiker der DDR waren vor allem mit dem kommunistischen Widerstand beschäftigt, der als Legitimation des antifaschistischen Nachkriegsstaats diente und andere Erinnerungen verdrängte.
Wichtigstes Thema wurde dann der Holocaust als das Jahrhundertverbrechen der Nationalsozialisten, und die Suche nach den Ursachen der deutschen Katastrophe bleibt ein Hauptanliegen der Historiker. Das Exil und die Rettung von Juden erschienen demgegenüber bis vor kurzem als marginale Ereignisse. Dass Flucht und Vertreibung aus Deutschland ebenso wie das Überleben im Konzentrationslager trau-matisierende Erfahrungen waren, kam erst spät ins öffentliche Bewusst-sein. Man hielt die Geretteten grundsätzlich für unbeschädigt, und ihr Schicksal war deshalb angesichts der Millionen Todesopfer weniger interessant. Auch die Betroffenen, die oft Symptome einer Überlebensschuld entwickelten, schwiegen lange Zeit.
Das Exil einzelner prominenter Schriftsteller, Künstler, Politiker hatte zuerst Aufmerksamkeit gefunden, viel später entdeckte man die gewöhnlichen Emigranten aus Deutschland, das Exil der kleinen Leute. Noch später fanden die etwa 10 000 Kinder und Jugendlichen, die nach den Pogromen im November 1938 mit Hilfe philanthropischer Anstrengungen nach Großbritannien reisen durften, den Weg in das öffentliche Gedächtnis. Zwischen zwei und 17 Jahre alt waren die jungen Menschen, die zwischen Dezember 1938 und September 1939 mit den »Kindertransporten« über die Niederlande nach Großbritannien gebracht wurden. Dort sollten sie vorübergehend oder auch für immer eine neue Heimat finden. In Großbritannien hofften sie auf ein Wiedersehen mit ihren Eltern. Neun von zehn hofften jedoch vergeblich. Während die Kinder in einem langwierigen und oft freudlosen Akkulturationspro-zess Schulunterricht und Ausbildung genossen, wurden die Eltern in Deutschland als Juden in die Ghettos und Vernichtungslager in den eroberten osteuropäischen Territorien deportiert und dort ermordet. Trennung traumatisiert an sich, die Ungewissheit über das Schicksal der Angehörigen kommt dazu, und das spätere Wissen um die Ermordung von Eltern und Verwandten macht das weitere Leben schwer. Der
Bericht eines der ehemaligen Kinder zeigt das Problem in erschreckender Kürze deutlich: »Im Juli 1939 kam ich mit dem Refugee Children's Movement nach England und ging gleich in die von Miss Essinger geführte Bunce Court School. Meine Eltern konnten nicht aus Deutschland entkommen und wurden in Auschwitz ermordet.« Auch das Elend der Eltern, die ihre Kinder im Winter 1938/39 oder später (der letzte Transport verließ Deutschland am 1. September 1939) zum Bahnhof brachten, ist schwer zu beschreiben. Hertha Nathorff, Ärztin in Berlin und Mutter eines 13-Jährigen, ist froh, dass Heinz nach Großbritannien darf, und unglücklich über die Trennung. In ihrem Tagebuch heißt es am 2. März 1939: »Mein Kind ist fort! Früh um 6 Uhr haben wir den Jungen zum Schlesischen Bahnhof gebracht zum Kindertransport nach England [...] Und wen ich alles traf an diesem Morgen! Eine Kollegin in tiefer Trauer - ihr Mann starb drei Tage nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager. Sie schickt ihren Jungen weg. Eine Patientin von mir bringt ihr vierjähriges Mädelchen. Ein anderer Patient sein Töchterchen, dessen arische Mutter bereits im Ausland lebt. Immer mehr Bekannte kommen.« Der Anblick des Gestapomannes wühlt sie auf, nicht minder das Zusammentreffen mit Bekannten in gleicher Lage. »Und die Kinder, sie stellen sich an mit ihren Köffer-chen, die sie ja selber tragen müssen. Jedes Kind bekommt eine Nummer, und die Kinder, sie kommen sich so wichtig, so interessant dabei vor, während es uns das Herz zerreißt. Bald müssen wir uns verabschieden. Die Kinder sollen reihenweise zum Zug geführt werden. Begleitung der Eltern zum Bahnsteig ist verboten.« Die Mutter eilt mit einem Taxi zum Bahnhof Zoo, um dort bei der Durchfahrt des Zuges noch einen Blick auf ihr Kind zu werfen, ihm Kekse durchs Fenster zu reichen und noch einmal Glück für die Reise zu wünschen. Diejenigen auszuwählen, die auf einen Kindertransport durften, gehörte zu den Aufgaben der jüdischen Gemeinden. Es war eine schwere Pflicht, zwischen den Anforderungen und Kriterien der aufnehmenden Organisation und den Wünschen und Hoffnungen der Eltern, die zunächst die Illusion hatten, sie könnten die Kinder begleiten, zu entscheiden. Mindestens so schwer war die professionelle Betreuung der Abreisenden durch jüdische Sozialarbeiter.
Einer von ihnen, der durch seinen Einsatz herausragte, war Norbert Wollheim. Er hatte 1933 sein gerade begonnenes Jurastudium abbrechen müssen, war dann in jüdischen Organisationen tätig, war Geschäftsführer des Bundes deutschjüdischer Jugend, arbeitete in einer Exportfirma und betreute innerhalb der Berliner Jüdischen Gemeinde Menschen, die Haft in Konzentrationslagern erlitten hatten. Er wurde gefragt, ob er bei den Kindertransporten helfen wolle. Seine Qualifikation bestand darin, dass er Erfahrung in der jüdischen Jugendarbeit hatte, Organisationstalent besaß und seine eigenen Interessen hintanstellte. Er war 25 Jahre alt und selbst auf der Suche nach Fluchtwegen für sich und seine junge Frau.
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