1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Machtergreifung
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Buchauszug
Zur Zeit der Machtübernahme Hitlers lebten in Deutschland etwa 550000 Juden. Nur 38000 von ihnen verließen 1933 die Heimat. 1934 waren es weniger als 23000, 1935 emigrierten 20000 deutsche Juden. Die »Nürnberger Gesetze« 1935, die Juden in Deutschland zu zweitklassigen Staatsangehörigen - ohne politische Rechte - herabstuften, bewirkten einen leichten Anstieg der Emigration (25 000). Nach dem Olympiajahr 1936 ging die Auswanderung wieder zurück (23 000). Die größten Emigrationswellen mit etwa 40 000 Auswanderern gab es 1938, verursacht durch die antisemitischen Schikanen nach dem Anschluss Österreichs (wo etwa 190000 Juden lebten) und die Novemberpogrome, sowie 1939. In diesem Jahr verließen 75000 bis 80000 Juden den deutschen Machtbereich. Die Verschärfung der judenfeindlichen Politik war im Jahr 1938 unverkennbar, sie zeigte sich außer in dem Ge-waltexzess der Vertreibung von 17 000 Juden polnischer Nationalität im Oktober und den inszenierten Pogromen der »Reichskristallnacht« in einer Vielzahl von schikanösen Erlassen und Verordnungen, von der Registrierung jüdischen Vermögens bis zur Anordnung der Zwangsvornamen Sara und Israel.
Das wichtigste Exilland war zunächst Frankreich, erste Stationen bildeten (bis 1938) auch Österreich, die Tschechoslowakei und das bis 1935 unter Völkerbundsmandat stehende Saarland. Bis zum Herbst 1938 hatten sich etwa 11000 deutsche Juden nach Großbritannien retten können, nach der »Reichskristallnacht« kamen weitere 40 000. Palästina und die Vereinigten Staaten waren die begehrtesten Exilländer. Aufgrund der restriktiven Quotenregelung, die Großbritannien als Mandatsmacht des Völkerbundes erlassen hatte, konnte nur ein kleiner Teil der siedlungswilligen Juden legal nach Palästina einreisen, die illegale Zuwanderung suchten die britischen Behörden mit allen Mitteln zu verhindern. Auch für die USA gab es Einwanderungsquoten und die Verpflichtung, das Af-fidavit eines US-Bürgers vorzulegen, der garantierte, dass der Einwanderer nicht zur sozialen Belastung würde. Nach Palästina konnten sich insgesamt weniger als 50000 deutsche Juden retten, in den USA fanden immerhin 130 000 eine neue Heimat. Alles in allem war es höchstens die Hälfte der Juden aus Deutschland und Österreich, die der nationalsozialistischen Verfolgung durch Emigration entkommen konnte. Bis 1939 forcierte und bremste der NS-Staat die Auswanderung der deutschen Juden gleichzeitig. Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft förderte deren Emigrationswillen, aber die Ausplünderung durch Vermögenskonfiskation und ruinöse Abgaben hemmte die Auswanderungs-
möglichkeiten. Eine Heimtücke des Regimes bestand darin, dass es den Antisemitismus zu exportieren hoffte, wenn die aus Deutschland vertriebenen verarmten Juden zum sozialen Problem in den Aufnahmeländern würden. Mit dem Anschluss Österreichs und der Annexion des Sudetenlandes geriet die Flucht von Juden aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet verstärkt ins Blickfeld der Nachbarstaaten. Insbesondere die Schweiz traf Vorkehrungen, um sich des Zuzugs Unerwünschter zu erwehren, Polen sperrte im Herbst 1938 sogar eigene jüdische Staatsbürger aus, die schon lange in Deutschland oder Österreich lebten. Im Juli 1938 fand am französischen Ufer des Genfer Sees eine internationale Konferenz statt, die den Problemen der jüdischen Auswanderung aus Deutschland gewidmet war. Eingeladen hatte Präsident Roosevelt, gekommen waren Vertreter von 32 Staaten und Abgesandte jüdischer Organisationen nach Evian-les-Bains, geschehen ist nichts, was die Chancen jüdischer Flüchtlinge verbessert hätte. Dem verstärkten Druck zur Emigration durch den NS-Staat Anfang 1939 folgten massive Behinderungen bis zum Auswanderungsverbot im Herbst 1941. Mit zunehmender Diskriminierung und Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen und ökonomischen Leben nahm andererseits und begreiflicherweise die Bereitschaft zur Emigration zu. Die Pogrome im November 1938 öffneten auch denjenigen deutschen Juden die Augen, die gezögert hatten, weil sie nicht glauben konnten, wie ernst die Lage war. In letzter Minute, nach der »Reichskristallnacht«, machten deutsche Juden angstvoll Jagd nach den notwendigen Papieren, flehten vor gelangweilten Bürokraten in den Konsulaten um Einwanderungserlaubnis, kämpften mit skrupellosen Geschäftemachern, die Visa und Passagen zweifelhafter Qualität als Rettungschancen feilboten. Der Handel mit dubiosen Tickets und wertlosen Einreisevisa in südamerikanische Länder florierte.
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