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Buchauszug
"Nachlass einer Generation"Tatsächlich gilt Bernward Vespers posthumes Fragment "Die Reise" mittlerweile als "das schlechthin gültige Buch über Bewusstsein und Entwicklung der deutschen Nachkriegsjugend" (Der Spiegel), in dem sich "das kollektive Scheitern jener Generation wider(spiegelt), die Mitte der sechziger Jahre aufbrach, die versteinerte Gesellschaft der westlichen Industriestaaten zu verändern" (Frankfurter Rundschau); "ein fürchterliches Buch, und doch das wichtigste, das in diesem (selbst)mörderischen deutschen Jahr (1977) erschienen ist" ("Die Zeit"). Ein Schweizer Rezensent nannte es gar den "Nachlass einer Generation", unwiderlegbar beglaubigt durch den Selbstmord des Verfassers im Mai 1971. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist es in immer neuen Auflagen und Ausgaben erschienen; bis heute zählt es zum Lektürekanon germanistischer Seminare und hat inzwischen seinen festen Platz in der bundesdeutschen Kultur- und Literaturgeschichte gefunden. Sieht man sich das originale Konvolut der tagebuchartig datierten, eng und randlos beschriebenen, in manischen Schüben zu Papier gebrachten Manuskriptseiten und die begleitenden Mappen voller fliegender Blätter, Karteikarten, Notizhefte, Ausrisse, Zeichnungen und Fotos an, denkt man allerdings eher an eine Flaschenpost. Es ist der lange, täglich fortgesetzte Brief eines Ertrinkenden, Abgleitenden, aus der Zeit Gefallenen, gerichtet an alle und niemanden. Dass dieses Fragment überhaupt noch in die Kunstform eines "Romanessays" gebracht und gedruckt worden ist, dass es in der Literaturgeschichte der Bundesrepublik überhaupt einen Autor namens Bernward Vesper gibt und damit (neben den Hinterlassenschaften bei Freunden und Verwandten) auch einen zugänglichen Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, ist das Ergebnis einer fast zufällig wirkenden Verkettung von Umständen. In seinem "Siegfried" -Monolog aus dem Jahr 1972, kurz nach dem Zusammenbruch des März-Verlags, hatte Jörg Schröder noch gesagt:"In den Zeitungen hat man von diesem Selbstmord nichts gelesen... Das Rohmanuskript des ungefähr in der Mitte abgebrochenen Buchs liegt bei mir. Er muss sich umgebracht haben, weil er ahnte, dass es mit diesem Buch nichts wird... (Ich) wäre genauso daran zerbrochen." Schröders Bemühungen, das fragmentarische Manuskript bei anderen Verlagen (Rohwolt, Suhrkamp, Wagenbach) unterzubringen, schlugen fehl: Zu wirr, zu redundant, hieß es; eine unzumutbare Arbeit, diesen Text in eine lesbare Form zu bringen; dazu die absehbaren Scherereien mit all denen, die in diesem Stück schonungsloser Selbstentblößung "vorkamen". Das Vesper der Sohn eines völkischen Großdichters und der Ex-Verlobte einer RAF-Terroristin war, war schließlich kein Adelsprädikat. Außerdem war dieser Ex-Kollege als Herausgeber der Kampf- und Bewegungsschriften der "Edition Voltaire" und zum Schluss als ausgeflippter Narkomane ihnen lange genug auf die Nerven gegangen. War sein Selbstmord nicht einfach der Offenbarungseid eines am eigenen Größenwahn Gescheiterten? So musste erst das Drama von Stammheim mit dem Selbstmord Ulrike Meinhofs (kurz nach dem Hungertod von Holger Meins) sich zu antikem Tragödienformat steigern, damit Jörg Schröder in einem Akt verlegerischer Intuition sich im Sommer 1976 des halb vergessenen und vergilbten Manuskriptpackens in seinem feuchten Landhaus-Keller entsann und es auf sich nahm, nach dem beim Verlag vorhandenen Durchschriften selbst eine erste Lesefassung zu erstellen. Im Juli 1977 erschien sie unter dem Titel "Die Reise" in der Edition "März bei Zweitausendeins". Die ersten Rezensionen waren eher missmutig, der Verkauf lief schleppend - bis die Zuspitzung des "deutschen Herbstes" das Buch plötzlich in eine ganz andere, tragisch umwitterte Perspektive rückten. Wenn irgendetwas, so schien es, dann musste dieser autobiographische Bericht des ersten Lebensgefährten von Gudrun Ensslin und Sohns des "Nazidichters" Will Vesper Licht in die Vorgeschichte dieser bleiernen Zeit und ihrer Protagonisten werfen. Das Buch wie der frühe Selbstmord seines Autors erschienen nun wie eine metaphorische Vorwegnahme der Ereignisse, die die Republik erschütterten. Damit gewann diese Prosa eine Eindringlichkeit, die sie vorher nicht besessen hatte. Schreiben: "Harakiri, ich ziehe meine Gedärme heraus. Dazu die totale ISOLATION. Konfrontiert mit den Tasten, der Walze, der kahlen Wand. Gefängnissituation." Auf einmal wirkte der Text wie eine Anrufung aus sämtlichen Verliesen der deutschen Geschichte. So war es fast schon ein Gemeinplatz, als Heinrich Böll Vespers Buch zum Beleg nahm, dass wir alle ... "Hitlers Children" seien. Damit zitierte er den Titel von Jillian Beckers "Story of the Baader-Meinhof-Gang", eines internationalen Bestsellers des Jahres 1977. Tatsächlich transportierte die griffige Formel "Hitlers Kinder" jedoch vollkommen entgegengesetzte Bedeutungen. Die britische Journalistin und Romanautorin Becker wollte demonstrieren, dass die deutschen Terroristen mit "Nazimethoden" gegen einen Staat ankämpften, der eben nicht mehr faschistisch war, sondern zum ersten mal eine Demokratie westlichen Zuschnitts, und den sie genau deshalb fanatisch hassten. In der linken und liberalen deutschen Öffentlichkeit dagegen, für die Böll sprach, hatte in den obskuren Selbsttötungen der Stammheimer Gefangenen wie im Fememord an Schleyer eine "unbewältigte deutsche Vergangenheit" ihren Tribut gefordert - wie immer das auch zusammenhing. "Die Reise" jedenfalls avancierte über Nacht zum Generationsdokument par exellence, zu einem prototypischen Kapitel des deutschen Familienromans, worin der rebellische Sohn am faschistischen Vater und der restaurativen Gesellschaft zerbricht und stirbt. Anti-Ödipus, Anno 68.
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