1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Die 68er-Bewegung und ihre Folgen
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Buchauszug
Geschichte einer Reise

In den letzten Wochen seines Lebens, als die Medikamente einen stocksteifen und hellsichtigen Greis aus ihm machten, sprach er mit den Lebenden und mit den Toten, und mit allen in einer anderen Sprache. Er war Odysseus und Hölderlin, Marx und Mao, Jesus und Zarathustra, Reich und Einstein. Nach Milliarden Jahren organischen Lebens auf dem Planeten war jetzt in ihm das Sein zu Bewusstsein gekommen. In einer jähen Erleuchtung seines armen Kopfes hatte er die Weltformel erblickt, die Formel des Lebens, und in einer "botschaft der weltbefreiungsfront an die Völker der Welt" hatte er sie verkündet. Aber die Presseagenturen, die er anrief, wollten die Botschaft nicht verbreiten.
Schon in München hatten die Freunde ihn für übergeschnappt gehalten, als er mit erhobenen Händen die blauen Orgonenströme aus dem durchstrahlten Azur in sich aufnahm, um die schlechten Einflüsse zu bekämpfen, die ihn, Gudruns alten Mo, immer öfter in einen MODJU verwandelten, ein Monster. Als er Ende Februar 1971 abgeholt und eingeliefert wurde, hatte er gerade einer Genossin ein Bügeleisen auf den Kopf geschlagen, weil die Teufelshufe trug, und die Wohnungseinrichtung zertrümmert. Auf dem schneebedeckten Hof war er nackt auf den gesplitterten Brettern herumgesprungen, hatte in die erleuchteten Fenster mit den erschrockenen Kindergesichtern Steine geworfen und geschrien, dass er Jesus sei, der Sohn Gottes. Nachher, als Klaus Dörner und Elken Lindquist ihn aus der Hölle von Haar heraus- und in die Stille, geschlossene Abteilung nach Eppendorf geholt hatten, erfüllte ihn diese Erinnerung mit brennender Scham.
Aber, wie Wilhelm Reich dem skeptischen Kurt Eissler schon 1952 erklärt hatte, bevor er selbst abgeholt und ins Gefängnis geworfen wurde: Wer von der Peripherie durch die "mittlere Schicht" seines Charakterpanzers hindurchstoßen will, um "zum Zentrum zu gelangen, wo das Natürliche, das Normale, das Gesunde liegt", der "muss durch die Hölle gehen". In dieser mittleren Schicht herrschen "Verwirrung, schizophrener Zusammenbruch, melancholische Depression", und schlimmer: "Schrecken, entsetzlicher Schrecken, nicht nur das - auch Mord".
Somit war seine Psychose praktisch die Antwort auf den Bewußtwerdungsprozess. Sie war der Preis, den jeder zahlen musste, der es wagte, zum Kern der Dinge und des eigenen Ichs vorzustoßen, um endlich den gattungsgeschichtlichen Sprung zu vollbringen und ein "neuer Mensch" zu werden. In seinem "philosophischen Tagebuch" notierte Vesper: "wenn das Gehirn aber seine historische Bestimmung erreicht, fließen die Ströme auf einem Zuckermolekül (vergleichbar den nachrichtensatelliten...) und verlassen die hirnrinde, um in der ganzen, bisher ungenutzten masse der zelle einzuziehen, um sie ewig zu bewohnen."
In dieser Zeit, Anfang März 1971, schrieb er aus der Eppendorfer Klinik an den März-Verleger Jörg Schröder, er brauche noch Kohle (wenigstens 2000,-), um das Buch, das politisch immer wichtiger werde, fertig zu machen. "Im Ernst: duch diese komische "Krankheit", die in Wirklichkeit eine Gesundheit ist, habe ich als Schriftsteller einfach ganz neue Qualitäten erhalten, d. h.: die große Übersicht. Ich kann jetzt von einer durchgängig richtigen, materialistischen Gesamttheorie her schreiben, die ich natürlich nicht als Gerippe, sondern mit dem Fleisch der eigenen und der allgemeinen Geschichte servieren will, so wie man in Deutschland seit urlanger Zeit keine Literatur gemacht hat."
Der endgültige Titel sollte jetzt "Logbuch" lauten, nicht "Hass" oder "Trip", wie früher angekündigt. Und wenn Schröder - dessen Privatspekulation auf meinen Namen er übrigens völlig durchschaue - keinen Scheiss mache und mitziehe, werde es der "Messehammer schlechthin".

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