1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Widerstand
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Buchauszug
Dennoch war die Gefahr groß, dass sie sich verraten würde. Als Dorothee den Kindern im Haus ein Märchen erzählte und vom Tod des alten Königs sprach, fragte die Kleine: «Tante, wie haben sie ihn denn umgebracht, haben sie ihn vergast, oder hat er sich das Leben genommen?» Das waren die Möglichkeiten des Sterbens, die sie aus den täglichen Gesprächen im Lebenskreis der Mutter kannte. Nach zwei Wochen fürchteten die Poelchaus ihre Entdeckung und brachten sie eilig zu Freunden in Lankwitz, einem Quartier am südlichen Stadtrand. Zur Schule konnte sie nicht geschickt werden, denn noch gab es keine Papiere für die Kleine. Ein Angestellter des italienischen Konsulats, der Harald Poelchau kannte, bot an, gegen die Bezahlung von zweitausend Reichsmark - ein Vermögen in jener Zeit — einen Taufschein zu beschaffen: mit Hilfe dieses Papiers sollten reguläre Ausweise beschafft werden, die es dem Mädchen erlaubt hätten, zu einer Großmutter nach Padua zu reisen.
Der Taufschein kam, ausgestellt auf Anna Spinelli. Doch ehe Tina-Anna in den Zug gesetzt werden konnte, wurde Mussolini gestürzt, das Konsulat neu besetzt: an einen italienischen Pass oder Personalausweis war nicht mehr zu denken. Harald Poelchau scheint an viele Türen geklopft zu haben. Eine Bekannte schrieb zu seinem 65. Geburtstag beschämt, dass sie es - nach einer Bedenkzeit - abgelehnt habe, ein jüdisches Kind (die kleine Tina) bei sich aufzunehmen: sie habe nicht gewusst, stammelte sie, «in welcher Gefahr Juden schwebten», auch nicht geahnt, «dass es um Leben und Tod ging». Sie fügte hinzu: «Mein Fall scheint mir typisch für die Deutschen, , aber hätten wissen können, wenn sie nur gefragt hätten.» Der Wille zur Wahrhaftigkeit und die Scham, die aus diesen Zeilen sprachen, verlangen Respekt. Doch die liebenswürdige Bürgerin hatte 1968 noch immer nicht durchschaut, dass sie damals nicht gefragt hatte, weil sie nichts wissen wollte - eines der vielen Geschöpfe, die unfreiwillig eine der Grunderfahrungen des 20. Jahrhunderts bezeugten: dass die Fähigkeit des Menschen, sich blind und taub zu stellen — und in der Tat nichts zu sehen und nichts zu hören —, grenzenlos und unermesslich ist. Sie bestätigte eine andere Beobachtung Poelchaus: Leute, «die es gewohnt waren, für ihre Überzeugung Kampf und Gefahr auf sich zu nehmen», hätten sich, wie er schrieb, meist ohne langes Bedenken bereit gefunden, «illegale Menschen bei sich zu verbergen ... Sie machten nicht viele Worte dabei, waren nicht sehr liebevoll und stellten oft geradezu harte Ansprüche an die Disziplin und Arbeitswilligkeit der Versteckten». Menschen aus bürgerlich-christlichen Kreisen dagegen hätten sich oft sehr hilfsbereit gezeigt, Geld gegeben, sich Lebensmittel abgespart — «aber eine persönliche Gefährdung ertrugen sie einfach nicht». Oft hätten sie ihn nach wenigen Tagen «mit allen Zeichen der Scham» gebeten, den Illegalen, die sie aufgenommen hatten, eine andere Unterkunft zu besorgen, weil sie keine Nacht mehr schliefen: «Ich halte es einfach physisch nicht aus.» Poelchau bemerkte trocken: «Moralisieren half da nicht, man musste mit der verschiedenen Struktur der Helfer rechnen ...»
Die kleine Tina, die nun Annchen hieß, wurde von einer solid sozialdemokratischen Familie in Mariendorf aufgenommen. Doch das Hausmädchen der Nachbarn schien den Verdacht geschöpft zu haben, sie könne ein jüdisches Kind sein, denn sie forderte das Mädchen auf, ihr hebräische Lieder vorzusingen. Also ging es zurück in die Wohnung der Poelchaus. Wieder war es «Vater Kranz», wie Harald ihn nannte, der eine Lösung anbot: er richtete dem Kind Unterschlupf in seinem Warenlager ein. Zum Glück gewann es die Liebe der Lebensgefährtin von Willi Kranz, wurde bemuttert und verwöhnt: die Herzlichkeit milderte das verstörende Geschick der völligen Isolierung und des Mangels an jeder Bewegungsfreiheit — das arme Geschöpf war in das verwinkelte Haus mit dem Warenlager verbannt. Nach Monaten gelang es Poelchau, «reguläre» Ausweispapiere für «Tina Weiss» zu beschaffen.
Ein Brief von Willi Kranz, den er seinem Schützling Konrad Latte-Bauer nach Bad Homburg schickte, deutet an, dass der Kantinenwirt ein Mensch von großer Nachdenklichkeit, Originalität und Gewissenhaftigkeit war. «Ich lebe», schrieb er, «im Geiste ihr Leben täglich mit und fühle mich elendiglich bedrückt, dass in der großen Welt eine kleine Seele keinen Platz finden sollte, ja, dass ich selbst so wenig tun kann. Ja, der Herrgott , aber nicht so, wie wir es wünschen. Wir werden mittlerweile stumpf, träge im Denken, gefühllos, idiotisch ... Ich habe nur eine Bitte, endlich mal aus diesen Zeiten herauszukommen und mit allen, die mir in dieser Zeit lieb geworden sind, beieinander zu sein; wie wollen wir dann in Liebe miteinander leben? Das ist nicht auszudenken. Lieber Conrad, sei klug wie eine Schlange ...» (Das so sorgsam gehütete Warenlager von Willi Kranz, das er über den Krieg zu retten hoffte, wurde am Ende bei einem Bombenangriff vernichtet. Er musste, wie Millionen andere, nach dem Krieg auf bescheidenste Weise für ein karges Auskommen schuften: in den Trümmern klaubte er Materialien zusammen, die wieder verwendet werden konnten, und schleppte sie auf einem Handkarren davon.)
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