1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Widerstand
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Buchauszug
In einer Bombennacht gelang Konrad und dem Buchdrucker Ludwig Lichtwitz die Flucht aus der Wartehaft in der Hamburger Straße. Für die erste Nacht fand er bei Tatjana Gsovski Aufnahme — allerdings hatte er noch vor Anbruch des Tages zu verschwinden. Gottfried von Einem gab ihm seinen Dienstausweis für die Staatsoper. Willi Kranz, der Kantinenpächter von Plötzensee, einer der zuverlässigsten Helfer Harald Poelchaus, brachte ihn in einem Kellergelass unter. Kranz war es auch, der ihm durch den befreundeten Hausmeister einer Bank in der Klosterstraße die Stelle eines Luftschutzwartes besorgte. Man stellte ihm sogar eine Schlafkammer zur Verfügung, in der Platz für ein Klavier war, das er sich weiß der Himmel wie und von wem zu verschaffen verstand. Gottfried von Einem aber «organisierte» (wie man sich in jenen Jahren ausdrückte) mit ungewöhnlicher Bravour die kostbarste Lebenshilfe, die sich denken ließ: einen Ausweis — mit Foto! — der Reichsmusikkammer. Das falsche Papier erlaubte es Konrad, sich als Kapellmeister für die Wanderbühne des Hessischen Volkstheaters zu bewerben. Versehen mit weißen Hemden Erich Kästners und einem dunklen Anzug des Filmstars Hans Söhnker brach er, wie Karin Friedrich erzählt, alsbald zu einer Wehrmachts-Tournee auf: im Dienst der Truppenbetreuung. Als Goebbels Ende August 1944 sämtliche Theater schließen und die meisten der volkstümlichen Unterhaltungen streichen ließ, zog Konrad Latte es vor, sich im Elternhaus einer Vertrauten, der Sängerin Ellen Brockmann, in Bad Homburg zu verbergen. Er saß auch dort bald wieder auf der Orgelbank.
Willi Kranz, der Kantinenpächter von Plötzensee, schickte getreulich seine Lebensmittelpakete auch nach Bad Homburg. Dieser ungewöhnliche Mann zeigte sich stets besorgt, dass die zum Tode Verurteilten vor der Hinrichtung jene Extraportion von Wurst und Käse tatsächlich empfingen - eine üppige «Henkersmahlzeit» gab es schon längst nicht mehr -, die ihnen zustand, um ihnen einmal noch das Gefühl der Sättigung zu geben, das sie seit ihrer Festnahme nicht mehr kannten. Man mag diese Art von Fürsorge heute für banal halten. Sie war es nicht, sondern eine der wenigen schlichten Gesten der Menschlichkeit, mit denen ein Mann wie Willi Kranz sein Mitgefühl tätig beweisen konnte. Überdies wollte er nicht dulden, dass die Sonderzuteilung vom Wachpersonal unterschlagen wurde.
Für Harald Poelchau wurde Kranz ein unentbehrlicher Helfer. Stets war er bereit, ein zuverlässiges Versteck für die Illegalen zu suchen. Er bot die letzte Zuflucht, wenn sonst kein Rat mehr war. In der Sammlung «Helfen verboten», die Harald Poelchau junior und seine Schwester Andrea Siemsen später aus dem Nachlass des Vaters zusammentrugen, zuvor in dem Erinnerungsbändchen «Die Ordnung der Bedrängten», deutete «Dr. Tegel» mit seiner üblichen Zurückhaltung die Ängste an, die ihn und seine Frau immer wieder belagerten, wenn sich Unbekannte in ihrer Wohnung oder in seinem Sprechzimmer einfanden, in hastigen Sätzen bekannten, dass sie untergetauchte Juden oder Verfolgte seien und nicht mehr wüssten, wohin sie sich wenden sollten, um ein Dach über dem Kopf und ein Stück Brot zu finden. Nicht alle konnten eine zuverlässige Empfehlung nennen. Poelchaus Name schien im Untergrund von Mund zu Mund zu gehen. Wie sollte er, wie sollte seine Frau wissen, ob ihnen die Gestapo nicht einen agent provocateur gleichviel welchen Geschlechts ins Haus geschickt hatte? Sie konnten sich nur auf ihren Instinkt verlassen.
Eines Abends klopfte bei ihnen «eine kleine lebhafte jüdische Frau mit Wiener Dialekt» an, mit einem verängstigten achtjährigen Mädchen. Die Mutter hatte einen Namen genannt, der Poelchau nichts sagte. Sie sei perfekte Damenschneiderin, brachte sie vor: ein in jenen Tagen sehr gesuchter Beruf. Poelchau versprach, sich nach einer Arbeitsmöglichkeit (und damit nach einem Unterschlupf) umzuschauen. Nach ein paar Wochen — es war vermutlich zu Beginn des Jahres 1943 — kam die Frau wieder: die Fabrik, in der sie Zwangsarbeit zu leisten hatte, war von der SS umstellt worden: die so genannte Fabrikaktion rollte an, bei der die letzten Juden in Berlin zusammengetrieben wurden, um vom kleinen Bahnhof Grunewald aus zu den Vernichtungslagern deportiert zu werden. Die Frau - Poelchau versah sie mit dem Namen «Adler» -hatte im letzten Augenblick fliehen können. Sie war nach Haus geeilt und hatte ihr Kind aus der Wohnung geholt. Später am Abend fand sich noch eine andere jüdische Frau ein. Für die erste Nacht behielten die Poelchaus alle drei in ihrer Wohnung. Die Mutter wurde untergebracht. Aber wohin mit dem Kind? Dorothee behielt es bei sich: das Mädchen erhielt den Namen einer Gleichaltrigen aus dem Kreis der eigenen Bekannten - Tina Weiss hieß sie von nun an, und «das gutmütige dicke Pummelchen mit Mutterwitz» musste eine neue Lebensgeschichte lernen.
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