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Buchauszug
Gleiwitz Das Codewort »Großmutter gestorben« ist gefallen, das Kommando Naujocks weiß, was zu tun ist. Der Kriminalbeamte Karl Nowak fährt gegen 19 Uhr vor dem Polizeigefängnis von Gleiwitz vor. Dort wartet eine schwarze Limousine mit einigen Zivilisten, die Nowak flüchtig kennt. Nach einer Weile erscheint Naujocks mit einem weiteren Mann, sie fuhren einen benommen wirkenden Mann mit sich und nehmen in Nowaks Wagen Platz. Der Benommene rührt sich nicht; das ist offenbar die »Konserve«, von der die Rede war. Nowak nimmt an, daß er eine Betäubungsspritze erhalten hat. Dann fahren sie los, mit zwei Autos, Richtung Hindenburg. Die schwarze Limousine biegt unvermittelt links ab, Nowak folgt ihr. Bald sehen sie vor sich den Sender Gleiwitz. Es ist deutlich vor 20 Uhr, als sie in den Senderaum eindringen. Sie geben ein paar Schüsse ab, um die Leute zu erschrecken, und fesseln das Personal, das um diese Zeit noch da ist. Es ist nicht einfach für sie, auf Sendung zu gehen, denn das Kommando hat darin wenig Erfahrung. Schließlich schaffen sie es. »Uwaga, uwaga«, beginnt einer von ihnen auf polnisch, Achtung, Achtung. Dann weiter, auf polnisch: »Hier ist der polnische Sender Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand. Die Stunde der Freiheit ist gekommen.« Knapp vier Minuten dauert das Verlesen des Aufrufs, er endet mit den Worten: »Hoch lebe Polen!« Dann machen sie sich davon. Nowak sieht noch, daß der Benommene aus dem Wagen geschafft wurde und jetzt mit blutverschmiertem Gesicht leblos vor dem Gebäude liegt. Nach der Rückkehr hört Nowak in Oppeln im Radio, der Sender Gleiwitz sei von polnischen Freischärlern überfallen worden. Berlin An diesem Donnerstag sind in der Reichskanzlei mehr Uniformen zu sehen als je zuvor. Militärs und Parteifunktionäre kommen und gehen. Aus Rom ist die Anregung zu einer Konferenz eingegangen. Skepsis herrscht besonders in den allerhöchsten Rängen. Mittags wird in der Reichskanzlei bekannt, daß Hitler für morgen früh 10 Uhr den Reichstag einbestellt hat. Der Besucherstrom schwillt im Laufe des Tages noch mehr an. Es sind dieselben Leute, die in den Tagen zuvor hier ein und aus gegangen sind, also Heß, Goebbels, Himmler, Bormann, Bouhler, Dietrich, Lutze, Frick, dann noch General Bodenschatz und Hewel vom Auswärtigen Amt. Die meisten haben noch einen Begleiter dabei, Brauchitsch und Keitel ihre ersten Adjutanten. Hitler spricht mit vielen alten Parteigenossen, sofern er sich nicht mit einem ausländischen Diplomaten oder einem deutschen General in den Wintergarten oder in den Musiksalon zurückzieht. Er ist nicht sonderlich auf Zurückhaltung bedacht — morgen gehe es los, hört man. Manch einem ist offensichtlich mulmig zumute, wie Göring; aber es fällt kein Wort der Widerrede! Er sei heilfroh, hört Meissner, der Chef der Reichskanzlei, Hitler sagen, daß die Polen sein großzügiges Angebot nicht angenommen hätten, er habe es gegen seine innere Überzeugung gemacht, hätte aber doch dabei bleiben müssen, falls sie darauf eingegangen wären. Hitlers Adjutanten von Below prägt sich eine Szene unvergeßlich ein: Hitler in einem größeren Kreis stehend, darunter auch Göring und Ribbentrop. Göring: Er könne nicht an eine Kriegserklärung der Engländer glauben. Daraufhin klopft ihm Hitler auf die Schulter und sagt: »Mein lieber Göring, wenn der Engländer an einem Tag ein Abkommen ratifiziert, dann bricht er es nach vierundzwanzig Stunden!« Und dann noch ein verbaler Hieb gegen die britische Scheinheiligkeit. Vorläufig ist nur den höchsten Militärs zuverlässig bekannt, was am nächsten Tag geschehen soll. Um 16 Uhr ist der letztmögliche Zeitpunkt, den gestrigen Angriffsbefehl — für den morgigen Tag — zurückzunehmen. Die Gelegenheit verstreicht ungenutzt. Genau zur gleichen Zeit, um 16 Uhr, gibt an anderer Stelle in Berlin Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, das Codewort aus: »Großmutter gestorben.« Zu später Stunde brechen heftige antibritische Vorwürfe aus Hitler hervor. Jetzt dient ihm die Ratifizierung des britisch-polnischen Beistandspakts als Beleg, daß die Briten ihn herausfordern wollten. Der Ablauf des gestrigen Tages sei ein weiterer Beweis, daß die Engländer einfach nur lügen würden. Göring ist trotzdem dafür, Dahlerus noch einmal mit London sprechen zu lassen. Quelle: Manfred Vasold "August 1939" ISBN: 3 499 61135 X Rowohlt Verlag GmbH Berlin, 8,90 Euro
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