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Buchauszug
An der Spitze dieser Organisation stand ein polnischer Staatsangehöriger namens Hans Thien. Nachdem die Polizei ihn festgenommen hatte, fanden die Beamten in seiner Wohnung einen Koffer mit allerlei Sprenggerätschaften. Zwei weitere Organisationen flogen in Posen und in Lodz auf; hier fand die Polizei Waffenlager mit automatischen Gewehren, Revolvern und Sprengstoff. Und an einem Ort unweit von Krakau nahm die Polizei fünfzehn Personen unter dem Verdacht fest, einen Spionagering gebildet zu haben. All dies flößte der Bevölkerung Angst ein. Leon Wells war 1939 gerade vierzehn Jahre alt geworden. Seine Familie war jüdisch. Sie lebten in Stojanow, einem Städtchen mit knapp zweitausend Einwohnern, rund hundert Kilometer östlich von Lemberg gelegen. Der Ort verfugte über eine siebenklassige Volksschule, eine römisch-katholische und eine griechisch-katholische Kirche, eine Synagoge sowie eine Gendarmeriestation. In Leons Schule waren fünfzig Schüler in einer Klasse, davon ein halbes Dutzend Juden. Es war ein armes Städtchen, wie es sie in Polen in großer Zahl gab. Polen war ein armes Land; die meisten seiner Bewohner waren nach wie vor in der Landwirtschaft tätig. Viele Häuser am Ort waren nur mit Stroh gedeckt. In Stojanow lebten nicht wenige Juden, und die meisten von ihnen waren so arm, daß sie sich selbst für den Sabbat kein Fleisch kaufen konnten. Bei vielen reichte das Geld nicht einmal für das Petroleum in den Lampen. Die Wells waren Chassidim, fromme, konservative Juden, wie sie im südlichen Polen häufig anzutreffen waren. Leon hatte letztes Jahr die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium gemacht und sie mühelos bestanden. Im August 1939 hatte er sein erstes Jahr auf dem Gymnasium gerade hinter sich. Jetzt, mitten in den Ferien, war gestern, um 17 Uhr am Mittwochnachmittag, eine furchtbare Meldung hereingeplatzt: die Anordnung der allgemeinen Mobilmachung, erster Mobilmachungstag war heute. General Orlik Ruckermann war zum Oberbefehlshaber in der Region ernannt worden. Noch in der gleichen Nacht war ein Probealarm veranstaltet worden, der das Städtchen in völlige Dunkelheit gehüllt hatte. Als die Sirene erklang, rannten alle in die Keller. Für die Kinder, vor allem für die Knaben, war das neu und aufregend. Gemeindemitglieder klärten die Bewohner auf, daß für sie fortan eine Gasmaske das Wichtigste sei, weil mit Gasbomben und Gasvergiftungen zu rechnen wäre. Die Deutschen, sagten sie, hätten im Weltkrieg solche Gasbomben an der französischen Front zum erstenmal eingesetzt. An diesem Donnerstag marschierten polnische Soldaten durch die Stadt, Kolonne auf Kolonne. Alle hatten Gasmasken in ihrem Marschgepäck. Die Straßen waren voller Menschen. Mütter, Frauen und Bräute weinten und warfen Blumen. Von Zeit zu Zeit schrie jemand: »Auf nach Berlin!« Aber es klang nicht sehr überzeugend.
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