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Buchauszug
Die Nazis hatten auf einen solchen Vorwand, die Juden endgültig aus der deutschen Gesellschaft und dem Wirtschaftsleben zu katapultieren, nur gewartet. Auf ein Signal von Joseph Goebbels begann im ganzen Land eine koordinierte Hass-, Gewalt-, Raub- und Propaganda-Kampagne gegen die Juden, die der Volksmund als »Kristallnacht« verharmloste. SA- und SS-Männer, aber auch so genannte rechtschaffene Volksgenossen zerstör ten überall jüdische Wohnhäuser und Geschäfte. Rund 30 000 Juden wurden verhaftet, die meisten von ihnen in Konzentrationslager gesperrt. Sie kamen erst nach Wochen oder Monaten frei — gegen Zahlungen oder andere erpresste Auflagen. Drei Dutzend Männer wurden erschlagen, unzählige krankenhausreif geprügelt. 191 Synagogen wurden in Brand gesetzt, 76 vollständig zerstört, tausende Wohnungen, Geschäfte und Warenhäuser demoliert, viele männliche Juden ins KZ gebracht. In den folgenden Tagen wurden die Juden gezwungen, eine Milliarde Reichsmark für die ihnen zugefügten Verwüstungen als »Entschädigung« zu zahlen. Die deutschen Versicherungen dagegen wurden von Zahlungen freigestellt. Aber auch damals gab es couragierte Männer und Frauen. Etwa in Berlin, wo der Polizist Wilhelm Krützfeld, der das Niederbrennen der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, dem größten jüdischen Gotteshaus in Westeuropa, verhinderte. In Warendorf wurde das Pogrom hauptsächlich von SA-Trupps aus der Umgebung veranstaltet. Die braun Uniformierten gingen systematisch vor. Sie zerstörten die kleine Synagoge in der Freckenhorster Straße, zerrissen die Gebetbücher und Thorarollen, warfen sie auf die Straße oder stahlen sie als »Souvenir«. Erst in den 70er Jahren wurde eine kleine Gedenkstele vor dem Haus aufgestellt. Ich half mit, den Text eindeutig zu formulieren: »Die jüdischen Bürger von Warendorf wurden zwischen 1933 und 1941 vertrieben, verschleppt oder ermordet.« Nachts tauchte eine Horde SA-Leute bei uns in der Schützenstraße auf. Mein Vater wurde aus dem Bett gezerrt und auf die Straße getrieben. Dort rissen ihm die Nazis die Kleider vom Leib. »Am nächsten Tag sahen wir den blutigen Schlafanzug von Herrn Spiegel über dem Gartenzaun hängen«, berichtete mir Erika Krüger im Frühjahr 2001, als ich mit einem Freund mein Elternhaus besuchte. Erika war eine Freundin meiner Schwester gewesen. Die Mädchen hatten gerne mit mir gespielt, mich umher geschleppt und gewickelt, wenn Mutter beschäftigt war. Zum Zeitpunkt der »Kristallnacht« war Erika sieben Jahre alt. Den Schrecken von damals hat sie nie vergessen: »Keiner hat sich auf die Straße getraut, als die SA-Schläger wüteten.« Solche Szenen spielten sich allenthalben in Deutschland ab. In Rheda, woher Mutter stammte, herrschte ebenfalls Terror. Anny Nolte, ihre Freundin aus Jugendtagen, dachte noch nach Jahrzehnten mit Schrecken an ihre »schlimmste Nacht« zurück. In einem Brief an mich schrieb sie im Sommer 2001: »Wir konnten ihnen (unseren jüdischen Nachbarn) nicht helfen. Ich werde diese Nacht nicht vergessen, da ich in meinem Schlafzimmer die Hilferufe des ganzen Hauses David Weinberg hörte. Als ich morgens auf dem Weg zur Sparkasse dort vorbeikam, sah ich ein Bild des Grauens und wollte helfen, wurde aber von gewissen Leuten daran gehindert. Das hat mich mein Leben lang belastet.« Heute sind fast alle über diese Verbrechen erschüttert. Doch viele wollen immer noch nicht wahrhaben, dass das Wegsehen weiter Teile der Bevölkerung, das Gewährenlassen, die Voraussetzung dafür war, dass die NS-Machthaber ihre kriminelle Energie entfalten konnten. Die SA-Männer zerrten meinen Vater mit sich an das Ufer der durch Warendorf fließenden Ems. Am Fluss prügelten sie stundenlang auf ihn und andere Warendorfer Juden ein. Im Morgengrauen schleppte sich Vater nach Hause zurück. Sein Körper war voller Blutergüsse und klaffender Wunden. Meine Mutter rannte zu mehreren Ärzten und bat sie, ihren Mann zu behandeln. Alle lehnten ab. In ihrer Not wandte sie sich an das Krankenhaus — auch hier verweigerten die Ärzte ihre Hilfe. Ihre Feigheit wog schwerer als ihr Berufsethos. Schließlich fand Mutter einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Dr. Gronover, der sofort alles stehen und liegen ließ und mit ihr ging. Als meine Mutter ihm sagte, dass sie Juden seien, reagierte er unwirsch. »Ich bin Arzt. Ich habe den Eid des Hippokrates geleistet, jedem Menschen in Krankheit und Not beizustehen. Egal, ob er Christ oder Jude ist. Ihr Mann braucht meine Unterstützung, also helfe ich. So einfach ist das.« Leider war das damals nur bei wenigen »so einfach«. Gelegentlich ergibt sich, wie das Sprichwort weiß, aus der Not eine Tugend. Die Weigerung der anderen Mediziner, Vater zu helfen, hatte Mutter zu dem HNO-Arzt gebracht. Nun erwiesen sich dessen Fachkenntnisse als Segen. Der Arzt stellte nämlich fest, dass das Trommelfell gerissen war - nähen konnte man so etwas damals zwar noch nicht, aber wenigstens behandeln. Mein Vater behielt allerdings für immer einen Hörschaden zurück. Durch seine Behandlung aber und vor allem durch sein vorbildliches, mutiges Verhalten hat der Arzt meinen Eltern sehr geholfen. Er gab ihnen ein Stück Vertrauen zurück in die Menschen ihres Städtchens und Deutschlands. Trotz dieses Trostes aber war in diesen Tagen selbst bei meinem gelassenen, bodenständigen Vater mehr kaputtgegangen als sein Trommelfell. Er begriff, dass er seine Augen nicht länger vor der Gefahr verschließen konnte. Die Nazis hatten die Macht im Staat und sie bedrohten jeden einzelnen Juden — auch ihn selbst und seine Familie. Ehe sie ihn endlich laufen ließen, hatten die SA-Schläger ihn gewarnt: »Verschwinde mit deiner Mischpoke aus Deutschland, dreckiger Jude! Beim nächsten Mal schlagen wir dich tot!« Dann hatten sie ihr Lied gegrölt: »Wenn's Judenblut vom Messer spritzt.« Obgleich mein Vater die Gefahr am eigenen Leib gespürt hatte, versuchte er noch, sie zumindest zeitlich und räumlich zu begrenzen. Die braune Herrschaft sei eine hässliche Episode, sie werde bald vorbei sein, redete er sich ein. Die Geschwister meiner Eltern dagegen erkannten, dass die Nazi-Pest keine Saisonplage war. Der Anschluss Österreichs, die Bedrohung und Erpressung der Tschechoslowakei sowie das Nachgeben Großbritanniens und Frankreichs gegenüber Hitler im Münchner Abkommen im September zeigten ihnen, dass die Nazis ganz Europa in Schach hielten. Den meisten gelang es, in den nächsten Monaten in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Ein Großteil der deutschen Juden dachte und handelte genauso. Zwischen der »Machtergreifung« Hitlers Ende Januar 1933 und den Pogromtagen im November 1938 hatten lediglich 150000 Juden ihre deutsche Heimat verlassen. Die anderen hofften wie meine Eltern, trotz der Nürnberger Rassengesetze, zunehmender Schikanen und Verfolgungen, dass der NS-Albtraum sich verflüchtigen würde. Als das Nazi-Regime in der »Kristallnacht« seinen mörderischen Charakter unmissverständlich enthüllte, mussten sie erkennen, dass sie einer tödlichen Gefahr ausgesetzt waren, wenn sie länger in Deutschland blieben. In den folgenden zehn Monaten bis zum Ausbruch des Weltkrieges am 1. September 1939 gelang noch einmal mehr als 180 000 Juden die Flucht. Mehrere Tausend konnten selbst in den ersten Kriegsjahren Deutschland noch verlassen. Sobald er sich von dem Schock der Pogromnacht erholt hatte, fuhr mein Vater nach Belgien, um sich nach einem Unterschlupf für seine Familie umzutun. Kurz nachdem er von der SA misshandelt worden war, wurde meinem Vater schon der Gewerbeschein und damit die Basis für seine wirtschaftliche Existenz entzogen. Nun verstand Vater, dass wir gezwungen waren, Deutschland zu verlassen. Als Erstes brachte er Rosa zu Verwandten nach Apeldoorn in den Niederlanden. Dort würde seine Tochter in Sicherheit sein, zumindest nach menschlichem Ermessen. Holland war vom Ersten Weltkrieg verschont geblieben. Mein Väter sah sich im Land um, fand jedoch für sich keine Beschäftigung. Also fuhr er weiter. Es gelang ihm, in Brüssel eine Stelle als Gehilfe bei Metzgermeister Blomme zu ergattern und eine Bleibe im gleichen Haus dazu. Quelle: Paul Spiegel Wieder zu Hause? ISBN: 3-89834-041-4 Ullstein Berlin, München 2001, 19,90 Euro
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