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Buchauszug
Also machte er sich noch im Mai 1945 auf die Reise in seine Vaterstadt. Quer durch das zerstörte Deutschland schlug er sich ins Münsterland durch. Er ließ sich weder von zerbombten Bahnverbindungen noch durch verstopfte Straßen aufhalten. Nach einigen Tagen kam er zu Hause an. Aber war er wieder zu Hause? Ich glaube, dass Hugo Spiegels Reise nicht wenige Tage, sondern mehrere Jahre dauerte. Für mich wird die Heimreise meines Vaters im Mai 1945 immer ein unlösbares Rätsel von symbolischer Kraft bleiben. Ich bin immer wieder erstaunt über die Macht, die Vater an Warendorf band. Es ist wohl die Kraft, die seit jeher die deutschen Juden mit ihrer Heimat verbindet, in der sie über Jahrhunderte immer wieder benachteiligt und gedemütigt, misshandelt und schließlich ermordet worden sind, aus der sie stets aufs Neue vertrieben wurden und in die sie freiwillig immer wieder zurückkehrten, Familien gründeten, sich Existenzen schufen, sich ihren Eintritt in die deutsche Gesellschaft ertrotzten, für Deutschland wirkten, kämpften und starben. Was nur ließ, was lässt uns Juden unbeirrt um Deutschland werben, dessen Bürger uns vielfach zurückgestoßen, gehasst und verfolgt haben? Was bindet uns an Deutschland? Was lieben wir an diesem Land und seinen Menschen? Der Germanist Hans Mayer hat in seinem 1982 erschienenen Buch den Begriff des »Deutschen auf Widerruf« für die Juden dieses Landes geprägt. Mit dem Machtantritt der Nazis im Jahre 1933, nicht erst 1941, seien die Juden von ihren nichtjüdischen Landsleuten abgestoßen worden, schreibt er. Das ist sozial und philosophisch konsequent gedacht. Hugo Spiegel aber war kein Philosoph. Er war ein klarer Kopf und ein westfälischer Dickschädel. Er war als Deutscher geboren worden und fühlte sich sein Lebtag so - selbst in Auschwitz. Daher stand für ihn unverrückbar fest: Warendorf ist mein Zuhause — komme, was da wolle. Nach all dem Elend kam etwas Gutes. Vater war kaum in Warendorf angelangt, da traf er Heinrich Baggeroer. Der Lederwarenhändler kannte ihn flüchtig aus der Vorkriegszeit. Als er Ende Mai 1945 erfahren hatte, dass mein Vater nach Warendorf zurückgekehrt war, suchte er ihn sofort auf und nahm ihn, ohne lang zu fragen, mit in sein Haus. Baggeroer hatte die Schändung und Zerstörung der Warendorfer Synagoge in der Freckenhorster Straße ohnmächtig miterleben müssen - doch tatenlos war er nicht geblieben. Der Kaufmann wollte verhindern, dass es den SA-Leuten gelänge, das Andenken der Juden in seiner Stadt vollständig auszulöschen. Nachdem die SA-Männer in der Nacht des 10. November 1938 ihr Zerstörungswerk vollendet hatten und abgezogen waren, war Baggeroer in die Freckenhorster Straße geschlichen und hatte eine der schweren Pergamentbibeln sowie einige jüdische Gebetbücher der demolierten Synagoge aufgesammelt. Er versteckte die Thorarolle im Keller seines Hauses. Baggeroer war sicher, dass der Nazifrevel nicht das letzte Wort der Geschichte und das Ende der Warendorfer Juden sein dürfte. Kaum war Vater in Heinrich Baggeroers Haus eingetroffen, als der die gerettete Thorarolle und die Gebetbücher aus dem Keller holte und seinem Gast übergab. Der Anstand dieses Mannes war für meinen Vater die Bestätigung dafür, dass sein Entschluss, nach Warendorf zurückzukehren, richtig gewesen war. Da er noch keine feste Bleibe hatte — unsere alte Wohnung an der Schützenstraße 17, war längst von anderen Mietern bewohnt —, nahm er Heinrich Baggeroers Einladung an, vorläufig in seinem Haus am Krickmarkt 16 zu wohnen. Die beiden Männer wurden lebenslange Freunde.Im folgenden Jahr 1938 begann für unser Volk die kritische Phase der Verfolgung. Im März kapitulierte die klerikal-ständische Regierung Österreichs unter Kanzler Kurt Schuschnigg vor Hitlers Erpressungspolitik. Deutsche Truppen marschierten in Österreich ein — und wurden von der Bevölkerung begeistert empfangen. Bejubelt von Zehntausenden verkündete Hitler auf dem Wiener Heldenplatz »den Anschluss meiner Heimat an das Deutsche Reich«. Die Welt nahm es hin. Die Nazis sahen diese Haltung als Toleranzsignal an. Im Oktober 1938 wurden Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die vielfach Jahrzehnte in Deutschland gelebt hatten oder sogar hier geboren waren, ohne Vorwarnung an die polnische Grenze deportiert und ausgesetzt. Die polnischen Behörden ließen die Juden dort unversorgt vegetieren. Unter ihnen war auch die Familie Grynszpan aus Hannover. Deren Sohn Herschel hatte sich vorher nach Paris absetzen können und beschloss, als er von der Deportation der polnischen Juden und seiner Eltern erfuhr, durch ein spektakuläres Attentat auf das Schicksal der Verschleppten aufmerksam zu machen. Das gelang dem Halbwüchsigen auf fatale Weise. Am 7. November schoss Herschel Grynszpan in Paris auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag.
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