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Buchauszug
Im Übrigen war es ein offenes Geheimnis, dass Modrow das Vertrauen Moskaus besaß. Ehe Modrow am 13. November von der Volkskammer offiziell zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, überschlugen sich jedoch die Ereignisse an den Grenzen. Der Massenexodus, der nach der ungarischen Grenzöffnung am 2. Mai 1989 begonnen hatte, setzte sich mit immer neuen Rekordzahlen fort. Bis zum Ende der ersten Novemberwoche hatten allein im Jahre 1989 über 225 000 DDR-Bürger ihren Weg in die Bundesrepublik gefunden. Dazu kamen noch etwa 300 000 deutschstämmige Umsiedler aus Osteuropa. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble warnte deshalb vor falscher Euphorie: Zwar werde die Bundesrepublik weiterhin alle Übersiedler aufnehmen; diese müssten jedoch damit rechnen, für längere Zeit in relativ bescheidenen Verhältnissen zu leben. Bundeskanzler Kohl bot der neuen DDR-Führung in seinem «Bericht zur Lage der Nation» am 8. November an, ihr bei der Umsetzung der Reformen zu helfen. Wenn es einen wirklichen Reformprozess gebe, werde man sogar «eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung» für die DDR erwägen. Hilfen vor Ort, so konnte man daraus entnehmen, waren ihm lieber als ein weiterer Anstieg der Übersiedlerflut in die Bundesrepublik. Allerdings sprach Kohl auch von der «nationalen Verpflichtung» seiner Regierung, das «Recht auf Selbstbestimmung für alle Deutschen» zu fordern. Doch während Kohl im Bundestag redete, schwoll die Zahl der Flüchtlinge aus der DDR auf nicht weniger als 500 pro Stunde an. Innerhalb eines Tages, vom Morgen des 8. November bis zum Morgen des 9. November, flohen mehr als 11000 Ostdeutsche über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Krenz und die neue SED-Führung waren sich zwar von Anfang an darüber im Klaren gewesen, dass die Frage der Reisefreiheit von größter Bedeutung sein werde, wenn die Stabilisierung des Regimes gelingen sollte. Aber mit solchen Ausmaßen hatte niemand gerechnet. Das neue Reisegesetz, das Innenminister Friedrich Dickel bereits seit dem 19. Oktober im Auftrag von Ministerpräsident Stoph vorbereitete, war deshalb längst überfällig. Am Nachmittag des 9. November informierte Krenz das Zentralkomitee der SED - eher beiläufig, wie Sitzungsteilnehmer sich erinnerten, da das Gremium immer noch als «orthodox» galt -, dass die Regierung soeben eine Entscheidung über die neuen Reisebestimmungen getroffen habe. Gegen 18 Uhr übergab Krenz dem neuen ZK-Sekretär für Information, Günter Schabowski, der gerade auf dem Weg ins Internationale Pressezentrum am Alexanderplatz war, um die dort versammelten Journalisten über die Ergebnisse der ZK-Tagung zu unterrichten, ein zweiseitiges Papier, das die neuen Bestimmungen enthielt. Offenbar hoffte er, dass das Einlenken in dieser zentralen Frage die Lage entspannen werde. Entsprechend groß war die Aufregung, als Schabowski um 19.07 Uhr, kurz vor Ende der Pressekonferenz, die vom Hörfunk und Fernsehen live übertragen wurde, mit bemühter Routine bekanntgab, die DDR habe ihre Grenzen geöffnet. «Bedeutet dies», fragte ein Reporter, «dass jeder DDR-Bürger jetzt frei in den Westen reisen kann?» Schabowski zitierte danach aus dem Text, dass Anträge auf Reisen ins Ausland ohne Vorbedingungen gestellt werden könnten, dass jeder DDR-Bürger ab dem kommenden Morgen um 8 Uhr ein Visum erhalten könne und dass die Behörden angewiesen seien, Pässe und Visa «schnell und unbürokratisch» auszustellen. Die Regelung trete «sofort» in Kraft. Natürlich glaubte nun jeder, die Grenzen seien offen. Die westlichen Medien berichteten ausführlich. Im Bundestag, wo eine Plenarsitzung noch über 19 Uhr hinaus andauerte, wich der CSU-Abgeordnete Karl-Heinz Spilker vom Text seiner vorbereiteten Rede ab und gab seinen Kolleginnen und Kollegen die Nachricht weiter, die er soeben erhalten hatte. Die meisten Abgeordneten - mit Ausnahme der Grünen - erhoben sich spontan von ihren Plätzen und sangen die Nationalhymne: «Einigkeit und Recht und Freiheit». Viele Ostdeutsche und Ostberliner machten sich noch in der Nacht auf den Weg zur Grenze, um sich an Ort und Stelle einen Eindruck von der neuen Lage zu verschaffen. Hier war die Verwirrung allerdings groß, denn die Grenzposten hatten von der angeblichen Grenzöffnung ebenfalls erst aus dem Fernsehen erfahren. Tatsächlich gab es noch keinen Beschluss, sondern nur eine Regierungsvorlage über die vorgezogene Grenzregelung, die Krenz von Innenminister Dickel während der ZK-Tagung zur Prüfung erhalten hatte. Nach der Zustimmung des Politbüros sollte sie im Umlaufverfahren von den Mitgliedern der noch amtierenden Regierung verabschiedet werden. Erst nach dieser Runde im Ministerrat, so das Verfahren, würden auch die entsprechenden Ausführungsbestimmungen erlassen. Dies brauchte jedoch Zeit, die man nun nicht mehr hatte. Die Grenzposten konnten deshalb am Abend des 9. November noch gar keine neuen Weisungen erhalten haben und mussten improvisieren. Als der Druck zu groß wurde, entschieden sie spontan, die Schlagbäume aufzumachen. Auch Krenz, der gegen 21 Uhr von Mielke telefonisch unterrichtet wurde, dass «mehrere Hundert Menschen» an der Grenze die sofortige Ausreise verlangten, plädierte dafür, sie «durchzulassen». Die Öffnung der Mauer war jetzt ohnehin nicht mehr zu vermeiden. Eigentlich war sie ja auch schon beschlossen. Der Jubel und das Chaos, die in den folgenden Tagen herrschten, ließen eine nüchterne politische Bestandsaufnahme der Entwicklung nur schwer zu. Vor allem war unklar, ob die Verwirklichung der Reisefreiheit nur den Druck beseitigte, unter dem die DDR-Führung bisher gestanden hatte, so dass eine Stabilisierung des SED-Regimes wieder in den Bereich des Möglichen rückte, oder ob die Maueröffnung den Massenexodus noch weiter förderte und die DDR damit endgültig in den Ruin trieb. Einer derjenigen, der sich zutraute, frühzeitig ein Urteil abzugeben, war Willy Brandt, der am Abend des 10. November vor dem Rathaus Schöneberg erklärte, nun sei eine neue Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten entstanden -eine Beziehung in Freiheit. Damit sei die Zusammenführung der Deutschen in Ost und West auf Dauer nicht mehr aufzuhalten. «Jetzt», so Brandt, «wächst zusammen, was zusammengehört.» Quelle:Manfred Görtemaker Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ISBN: 3893314563 C.H. Beck Verlag, München 2002, 24,90 Euro
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