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Buchauszug
In dieser Situation kam das festliche Ereignis des 40. Jahrestages der DDR am 6. Oktober 1989 durchaus ungelegen. Die öffentlichen Demonstrationen und Aktivitäten der Oppositionsgruppen erreichten am Vorabend dieses Tages einen neuen Höhepunkt. Besonders Dresden, wo die Durchfahrt eines Zuges mit DDR-Flüchtlingen aus der Bonner Botschaft in Prag am 4. Oktober Unruhen ausgelöst hatte, die immer noch andauerten, war Schauplatz schwerer Auseinandersetzungen. Während die Proteste, die zunächst auf Berlin, Leipzig und Dresden konzentriert gewesen waren, sich immer mehr ausbreiteten, erwartete die Führung in Ost-Berlin mehr als 4 000 geladene Gäste aus der DDR und über 70 ausländische Delegationen, unter ihnen eine sowjetische Abordnung mit Michail Gorbatschow an der Spitze. Man hoffte, vom Glanz des Generalsekretärs der KPdSU zu profitieren. Doch Gorbatschow war auch ein Hoffnungsträger für die ostdeutschen Dissidenten, die sich von ihm eine Ermutigung für den Reformprozess in der DDR versprachen. Am 6. Oktober, dem ersten Tag der Feierlichkeiten, beschränkte man sich noch auf den Austausch von Höflichkeiten, die dem festlichen Anlass angemessen waren. In Honeckers Festrede am Nachmittag im Palast der Republik fand sich dabei kein Wort über die Flüchtlinge, kein Satz über die internen Probleme. Am Abend gab es allerdings bei einem Fackelzug Unter den Linden spontan öffentliche Ovationen für Gorbatschow. Doch erst am folgenden Tag wurde dieser bei einem persönlichen Gespräch mit Honecker und in einer Unterredung mit den Mitgliedern des SED-Politbüros im Schloss Niederschönhausen deutlicher: «Kühne Entscheidungen» seien notwendig, jede Verzögerung werde zur Niederlage führen: «Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.» Nachdem Gorbatschow mit seinem Plädoyer für politische und ökonomische Reformen geendet hatte, pries Honecker aufs neue den Erfolg des Sozialismus in der DDR. Wiederum kein Wort über die Krise in seinem Lande oder das Problem der Flüchtlinge. Der Tag klang aus mit einem Empfang im Palast der Republik. Währenddessen hatten sich auf dem Alexanderplatz, nur wenige Meter entfernt, etwa 15 000 bis 20 000 Menschen versammelt, wo sie von «Agitatoren» der Partei in Diskussionen verwickelt wurden. Niemand musste verhaftet werden. Doch als die Menge sich bereits zu zerstreuen begann, starteten einige Demonstranten am Ufer der Spree wieder mit «Gorbi, Gorbi»-Rufen und dem Slogan «Wir sind das Volk». Kurze Zeit später war die Situation völlig verändert: Einheiten der Polizei und der Staatssicherheit, die sich auf dem Alexanderplatz zurückgehalten hatten, erwarteten die auf dem Heimweg befindlichen Demonstranten in den Straßen auf dem Prenzlauer Berg. Die Gewalt, die in der Stadtmitte vermieden worden war, wurde nun mit großer Härte angewandt. Für die Führung der SED waren die Ereignisse bei den Jahrestag-Feierlichkeiten ein weiterer Rückschlag. Vor allem Honecker hatte offenbar jeglichen politischen Instinkt verloren. Zwei Tage nach dem Jubiläum, am 8. Oktober, ergriff daher Egon Krenz, der lange als «Kronprinz» Honeckers gegolten hatte, die Initiative und erörterte mit Günter Schabowski ein fünfseitiges Papier, das vom Politbüro verabschiedet und als Proklamation der Parteiführung veröffentlicht werden sollte. Es enthielt keine Sensationen, aber doch einen Anflug von Selbstkritik. Da nur der Generalsekretär das Recht hatte, Vorlagen im Politbüro zur Diskussion zu stellen, musste Honecker zustimmen, wenn der Text überhaupt zur Sprache kommen konnte. Wie nicht anders zu erwarten, lehnte er ab. Doch Krenz beharrte darauf, dass die Parteiführung nicht länger schweigen dürfe, und kam schließlich telefonisch mit Honecker überein, die Angelegenheit am folgenden Tag nochmals zu besprechen.
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