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Buchauszug
Der Soziologe Helmut Schelsky sprach in diesem Zusammenhang bereits 1953 von einer «nivellierten Mittelstandsgesellschaft», für die ihm der Typ der industriell arbeitenden und konsumorientiert lebenden Kleinfamilie prägend zu sein schien, die bis Mitte der sechziger Jahre für geburtenstarke Jahrgänge sorgte und allgemeine Zufriedenheit mit dem Erreichten der Aufbauzeit bekundete. Die Herausbildung einer kleinbürgerlich-mittelständischen Gesellschaft -«ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich» - war für Schelsky zugleich Beweis für die Überwindung der Klassengesellschaft. Der wachsende Wohlstand für viele, wenn auch vielleicht nicht für alle, die Änderung und Angleichung der Lebensgewohnheiten, Routinen, Sitten und Gebräuche im Alltag sowie die bemerkenswerte Zufriedenheit des weit überwiegenden Teils der Bevölkerung mit dem politischen und ökonomischen System der Bundesrepublik bedeuteten zugleich die Widerlegung von Karl Marx. Die Modernisierung des Kapitalismus war offenbar nicht gleichbedeutend mit seiner Radikalisierung. Jedenfalls schien die Bundesrepublik mit ihrem ökonomischen Aufschwung auf dem Weg, den Kreislauf von Krieg, Not und Revolution zu durchbrechen und eine Gesellschaft zu errichten, die sich nicht nur durch Freiheit, sondern auch durch ein hohes Maß an Gleichheit auszeichnete. In Wirklichkeit konnte von „Nivellierung“ im Sinne Schelskys allerdings kaum die Rede sein. Es erscheint vielmehr angemessen, von einer «Schichtungsgesellschaft» zu sprechen, in der zwar die Klassengesellschaft nicht mehr existierte, wohl aber eine «ungleiche Gesellschaft mit deutlich höher und tiefer stehenden Bevölkerungsteilen». Zumindest prinzipiell stand darin allen Bürgern die Möglichkeit offen, durch individuelle Leistung in Ausbildung und Beruf einen sozialen Aufstieg anzustreben. Hinzu kam die Angleichung von Lebensstandard, Alltagsgewohnheiten und Freizeitgestaltung. Am meisten profitierten davon die unteren Schichten, die mit der für sie ungewohnten Möglichkeit zur Vermögensbildung kulturell «verbürgerlichten». Die Erosion traditioneller Identitätsmuster der «Arbeiterklasse» war deshalb hier besonders augenfällig. Die Öffnung des Bildungswesens und die mit dem Produktivitätssprung der Industrie bzw. mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors einhergehende Entstehung neuer Berufe machte zudem aus Arbeitern häufig Facharbeiter bzw. qualifizierte Angestellte. Die verbesserten Aufstiegsmöglichkeiten für Arbeiter bewirkten wiederum eine Lockerung ihrer ursprünglichen politischen Bindung an die klassischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften. Die Identifikation mit kollektiven Interessenorganisationen trat zugunsten eines eher individuellen Leistungsdenkens bzw. eines stärker familienbezogenen Selbstverständnisses zurück. Die Dynamik des Wirtschaftswunders und der damit verbundene tiefgreifende soziostrukturelle Wandel führten somit zwar nicht zu einer Nivellierung der Vermögensverhältnisse, wohl aber zu einer Egalisierung der Konsum- und Freizeitorientierung, die letztlich das Erscheinungsbild der Gesellschaft in der Bundesrepublik mindestens ebenso sehr prägte wie die fortbestehende soziale Differenzierung nach Bildung, Beruf oder Einkommen. Ob man die Gesellschaft der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren demnach als «nivellierte Mittelstandsgesellschaft», als eine «Gesellschaft jenseits von Klasse und Stand» oder als «pluraldifferenzierte Wohlstandsgesellschaft» charakterisiert, ist eine Frage, die in erster Linie die Soziologen beschäftigt. Alle diese Kategorien umreißen indessen eine Sozialstruktur, die sich von der überkommenen Klassengesellschaft grundsätzlich unterschied und in der Freizeit und Konsum einen zentralen Stellenwert gewannen. Alte milieudifferenzierende Indikatoren wie Lebensstandard, Arbeit und Umgebung wurden durch neue ausgeklügelte Kriterien, wie Qualität der Bekleidung, Lage und Ausstattung der Wohnung, Besitz oder Nichtbesitz eines Autos sowie die Möglichkeit zu reisen, ergänzt. Schichtenzugehörigkeit bzw. Herkunftsmilieu wurden nicht mehr allein durch Beruf, tatsächliches Einkommen oder den Wohnort bestimmt, sondern immer häufiger auch durch Symbole eines realen oder vermeintlichen Wohlstands dokumentiert.Quelle: Manfred Görtemaker Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ISBN: 3 89331 456 3 C.H. Beck Verlag, München 2002, 24,90 Euro
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