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Buchauszug
Diese demographische Dynamik hatte weitreichende soziale und kulturelle Auswirkungen. Die innere Schichtung der Gesellschaft war davon ebenso betroffen wie deren Verhaltensmuster. Neue Orientierungen traten an die Stelle tradierter Normen und Werte, konfessionelle Grenzen verwischten sich, das politisch-historische Selbstverständnis und die ideologische Ausrichtung gewannen eine neue demokratisch-pluralistische Dimension. Zu diesen Veränderungen trugen aber auch die Deklassierungs- und Nivellierungsprozesse bei, die sich während der nationalsozialistischen Herrschaft vollzogen hatten und durch den allgemeinen Zusammenbruch von 1945 sowie die Folgen des Krieges noch verschärft wurden. Mit ihrer Auflockerung tradierter Strukturen verhalfen sie dazu, die Herausbildung einer modernen Industriegesellschaft in der Bundesrepublik zu erleichtern. Die Teilung Deutschlands beendete schließlich nicht nur die quantitative Minderheitslage der Katholiken, sondern auch die Spannung zwischen der ostdeutschen Gutswirtschaft und der west- und süddeutschen Familienwirtschaft. Zwei schwerwiegende politische und wirtschaftliche Strukturdefizite des ehemaligen Deutschen Reiches blieben der Bundesrepublik damit erspart. Zugleich ging die Bedeutung der Landwirtschaft - also des «primären Sektors» — im Verhältnis zum zweiten Sektor, der industriellen Produktion, und zum «tertiären Sektor» der Dienstleistungen ständig zurück. Dabei handelte es sich allerdings nicht um ein spezielles Phänomen der Bundesrepublik, sondern um ein typisches Merkmal der Entwicklung aller modernen Industriegesellschaften. So lag der Anteil der im Agrarsektor tätigen Menschen an der Gesamtzahl der Beschäftigten in der Bundesrepublik bereits 1950 nur noch bei 22 Prozent; bis 1960 sank er sogar auf 13 Prozent. Die Industrie beschäftigte dagegen schon in den fünfziger Jahren knapp die Hälfte aller Arbeitskräfte, während der tertiäre Sektor, der schließlich sowohl die Landwirtschaft als auch die Industrie überflügeln sollte, zu dieser Zeit noch bei 20 Prozent lag und erst in den sechziger und siebziger Jahren entscheidend an Boden gewann. Der Anteil der selbstständig Beschäftigten nahm im Laufe dieser Entwicklung kontinuierlich ab und lag bereits 1960 unter 20 Prozent -gegenüber immerhin noch 28 Prozent im Jahre 1950. Die moderne kapitalistische Industriegesellschaft, die formal auf dem freien Unternehmertum beruhte, war damit in Wirklichkeit - zumindest in quantitativer Hinsicht - eine vielfältig differenzierte Arbeitnehmergesellschaft, in der es zu einer vorrangigen Aufgabe der Politik wurde, die Rahmenbedingungen für Aufstieg und soziale Sicherung auf allen Ebenen zu schaffen. Tatsächlich machte nur der rasche wirtschaftliche Aufschwung die relativ reibungslose Integration der Millionen Zuwanderer möglich, die nach 1945 in den Westen Deutschlands strömten. Immerhin waren in der jungen Bundesrepublik 1949 infolge Flucht, Vertreibung und Umsiedlung nicht weniger als 19,3 Prozent der Bevölkerung Vertriebene oder Kinder von Vertriebenen - also nahezu ein Fünftel. Mit Erreichen der Vollbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt im Jahre 1958 konnte die soziale Eingliederung der Flüchtlinge, die der erstarkenden Wirtschaft als ebenso qualifizierte wie motivierte Arbeitskräfte durchaus willkommen waren, im Wesentlichen als vollzogen gelten. Es hatte dazu allerdings eines starken staatlichen Rahmens bedurft, um die Integration praktisch zu verwirklichen. Das wichtigste Instrument hierbei war das Gesetz über den Lastenausgleich (LAG) vom 14. August 1952, nachdem zuvor bereits mehrere Verordnungen zur Eingliederung von Heimatvertriebenen in die Landwirtschaft (10. August 1948), zur Hypothekensicherung (2. September 1948) und zur «Behebung dringender sozialer Notstände» (8. August 1949) erlassen worden waren. Ein Lastenausgleich erschien unbedingt notwendig, weil allein der Verlust an Privatvermögen, den die deutschen Vertriebenen erlitten hatten, auf 299,6 Milliarden DM beziffert wurde. Die Schätzung der Gesamtvermögensverluste - also einschließlich der öffentlichen Vermögensverluste -belief sich sogar auf 355,3 Milliarden DM. Das Lastenausgleichsgesetz sah Vermögens-, Hypotheken- und Kreditgewinnabgaben für diejenigen Schichten der Bevölkerung vor, denen es gelungen war, Vermögen in die neue Zeit hinüberzuretten. Die Besitzenden im Westen sollten also mit einer Vermögensabgabe den Opfern von Kriegssachschäden und Vertreibungsschäden helfen, um eine gleichmäßigere Verteilung der Kriegs- und Kriegsfolgekosten zu erreichen. Dies gelang. Die friedliche Eingliederung der Vertriebenen stellt deshalb eine politische, wirtschaftliche und menschliche Leistung dar, die kaum hoch genug bewertet werden kann. Sie zählt zu den bedeutendsten Beiträgen zur Sicherung des europäischen Friedens nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Bewusstsein der meisten Westdeutschen verklärte sich das «Wirtschaftswunder» der zweiten deutschen Gründerzeit zwischen 1950 und 1958 deshalb zum sinnstiftenden Mythos. Aus einer Situation elementaren Mangels an Lebensmitteln, Wohnraum und Arbeitsplätzen war in weniger als einem Jahrzehnt eine neuartige Konsumgesellschaft entstanden, deren Mitglieder nicht länger nur damit beschäftigt waren, ihre materiellen Grundbedürfnisse zu sichern, sondern sich nun auch mit Luxusgütern, wie Autos, Fernsehern und Auslandsreisen, vertraut machen durften. Zugleich führten die anhaltende Prosperität sowie die damit einhergehende Modernisierung und nachhaltige Lebensveränderung zu einem politisch-sozialen Strukturwandel, den Josef Mooser als «Abschied von der Proletarität» beschrieben hat. Die traditionelle Enge und Unsicherheit des «proletarischen» Lebenszuschnitts wurden weithin überwunden. Die Vollbeschäftigung sowie die Arbeitszeitverkürzung und Steigerung der Einkommen gaben den vormals nur ungenügend abgesicherten Arbeitern nicht nur soziale Sicherheit, sondern boten ihnen zum ersten Mal auch die Chance zu einer nicht mehr ausschließlich durch Mühsal bestimmten Existenz. Muße und Freizeit, früher nur den höheren Schichten vorbehalten, wurden jetzt allen Menschen zugänglich. Darüber hinaus bewirkte die institutionelle wie materielle Erweiterung der Sozialpolitik, etwa die Dynamisierung der Renten seit 1957, einen fundamentalen Wandel im lebens- und familienzyklischen Einkommensverlauf, durch den ein stärker individuell bestimmtes Privatleben möglich wurde.
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