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Journalseite September 2023 |
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Buchauszug
Mitte März 1942 waren bereits 20 bis 25 Prozent aller Holocaustopfer tot. Doch außer in Rußland, in Teilen Jugoslawiens und in Rumänien war das europäische Judentum noch immer relativ unversehrt. In den folgenden elf Monaten aber starben 50 Prozent aller Holocaustopfer. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland, Österreich, Jugoslawien und in der Tschechoslowakei wurden vernichtet und die in Frankreich, Belgien und den Niederlanden stark dezimiert. Nirgendwo in Europa jedoch war dieser schreckliche elfmonatige Blitzkrieg der Nazis gegen die Juden verheerender als in Polen. In den östlichen, 1939 von der Sowjetunion besetzten Regionen hatte das Morden bereits mit der deutschen Invasion im Sommer 1941 angefangen. Im Dezember des Jahres war im Warthegau, einem sogenannten angegliederten Gebiet, mit Deportationen zu Vernichtungszentren begonnen worden, allerdings ging das Töten in den zwei (für kurze Zeit drei) «Gaswagen» in Chelmno nur langsam vonstatten. Die jüdischen Gemeinden des Warthegaus wurden ganz allmählich ausgeblutet. Das, was Mitte März 1942 mit dem Sturm auf das Ghetto von Lublin begann und Mitte Februar 1943 mit der völligen Zerstörung von Grodno und der Dezimierung des Ghettos von Bialystok endete, ging daher weit über das erste Morden hinaus. In diesem Zeitraum von elf Monaten eliminierten die deutschen Besatzer in Polen eine jüdische Gemeinde nach der anderen. Sie bestimmten immer wieder Ort und Zeit für den ungleichen Kampf gegen ihre untereinander uneinigen und isolierten Opfer, konzentrierten ihre Kräfte, um vor Ort jeweils die Oberhand zu haben, und führten ihre Ghettoräumungsaktionen mit beispielloser Gewalt und Brutalität durch. Nach diesem Ansturm waren die meisten der jüdischen Gemeinden Polens vernichtet. In stark reduzierten Restghettos oder in von der SS kontrollierten Arbeitslagern war etwa einer halben Million polnischer Juden noch einmal eine kurze Atempause vergönnt. Andere hielten sich unter zunehmend schwierigeren Umständen versteckt. Der Großteil der polnischen Juden aber war tot. Vor Beginn dieses Mordfeldzugs war erst weniger als ein Fünftel der polnischen Juden in den Ghettos von Lodz und Warschau konzentriert. Die übrigen lebten in mehr als 700 über ganz Polen verteilten Kleinstädten und Ortschaften, wo sie - meist, wenn auch nicht immer, in Ghettos wohnend - in der Regel mindestens 30 Prozent, in manchen Orten auch bis zu 80 oder 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Die geplante Ermordung dieser weit verstreut lebenden jüdischen Bevölkerung brachte für die nationalsozialistischen Mörder eine ganze Reihe von Problemen mit sich. Es galt, den Mordfeldzug zu koordinieren und zeitlich abzustimmen, die logistischen Probleme in bezug auf Transportmittel, Tötungskapazitäten und Leichenbeseitigung zu überwinden und genügend Mannschaften für das Zusammentreiben der Juden zu mobilisieren. Wie lösten die Nationalsozialisten diese organisatorischen, logistischen und personellen Probleme? Als erstes sollen hier die miteinander zusammenhängenden Probleme bei Koordination, Zeitplanung und Logistik untersucht werden. Für die «angegliederten» Gebiete Warthegau und östliches Oberschlesien im westlichen Teil des besetzten Polens galten spezielle Zuständigkeiten. Die dortigen Juden wurden in die Vernichtungslager von Chelmno und Auschwitz-Birkenau geschickt. Die ehemals polnischen Gebiete im Osten blieben den Reichskommissariaten für die Verwaltung der besetzten sowjetischen Gebiete zugeordnet, und die dort ansässigen Juden wurden - wie diejenigen aus dem übrigen von Deutschland besetzten Teil Rußlands - größtenteils an Ort und Stelle von Erschießungskommandos getötet. Zwischen diesen beiden Grenzregionen lebten in den fünf Distrikten des sogenannten Generalgouvernements und dem autonomen Distrikt Bialystok knapp zwei Millionen polnische Juden unter deutscher Herrschaft. Die Ermordung dieser Juden - von den Nazis als «Aktion Reinhard» bezeichnet - vertraute Heinrich Himmler dem SS- und Polizeiführer des Distrikts Lublin, Odilo Globocnik, an. Globocnik war nur einer von fünf SS- und Polizeiführern im Generalgouvernement. Es gab einen in jedem Distrikt, und seine Aufgabe war es, im eigenen Zuständigkeitsbereich alle Aktionen zu koordinieren, bei denen SS-Einheiten mit anderen Verbänden zusammen zum Einsatz kamen. Manchen der SS-und Polizeiführer stand für ihre Arbeit nur ein rudimentärer Stab von einem Dutzend Männern zur Verfügung, und sie schienen sich über ihre speziellen Aufgaben und Machtbefugnisse nicht ganz im klaren zu sein. Als Globocniks Kollege in Warschau, Arpad Wigand, sich wegen seiner ungeklärten Zuständigkeit und Rolle bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten in Krakau beklagte, entgegnete der ihm mit Himmlers Worten, «daß ein Nationalsozialist aus seiner Dienststellung das mache, was er selber wert sei». In der «totalitären Anarchie» und dem undurchsichtigen Dickicht der internen NS-Politik wußte niemand besser als Globocnik, wie sich aus der eigenen Stellung das Beste machen ließ. Bis Herbst 1943 hatte er sich einen riesigen Machtbereich mit einem Stab von 434 Männern aufgebaut. Neben der Leitung der «Aktion Reinhard» waren diese Männer auch mit Globocniks Lieblingsprojekt befaßt: der «Germanisierung» der Region Zamosc in Südostpolen. Außerdem verwalteten sie eine ganze Reihe von Arbeitslagern und Wirtschaftsunternehmen der SS, die es in anderen Distrikten des Generalgouvernements so nicht gab.
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