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Widerstand
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Buchauszug
An Marita Herfeldt, [Rußland], 10. 8.1941

Liebe Marita,
erstaunlich rasch habe ich Deinen Brief vom 29. VII. in Händen. Es ist erfreulich, daß nun die Postverbindung ohne Unterbrechung hergestellt ist, obwohl doch die räumliche Entfernung eine immer größere wird. Gerade aber der Postverkehr bedeutet hier draußen schon viel. Fast hat es garnichts Besonderes mehr auf sich, daß ich gestern am späten Nachmittag Deinen Brief las, während nur wenig von unserem Lagerplatz entfernt die Maschinengewehre knatterten und der Himmel von den Feuerscheinen brennender Dörfer und vielleicht auch Wälder grellrot beleuchtet wurde. In diesen langen Wochen seit 22. Juni mußte man sich unbemerkt an diese täglichen Erscheinungen gewöhnen, obwohl ich doch immer wieder an das Fremdartige dabei erinnert werde. Zwischen allen Soldaten und im ständigen Umgang
mit diesen Kameraden gewöhnt man sich daran, das ist einfach so. Vielleicht ist es oft gut, denn dadurch empfindet man bei der Begegnung mit allem Grauenhaften nicht soviel Abscheu wie es sonst doch ganz bestimmt wäre.
Man lebt sehr schnell hier draußen, und sehr oft vergehen auch die langen Stunden durchwachter oder auf dem Marsch verbrachter Nächte ziemlich rasch. Wenn man sich vorstellt, was in solch langer Zeit, etwa seit Anfang Juni hätte gearbeitet werden können, so muß man immer wieder den Kopf schütteln. Gerade in diesen Tagen schrieb mir nämlich ein Kamerad, der Medizinstudent ist und zu Anfang Mai von dieser Einheit zum Studium kommandiert wurde, daß er inzwischen seine Doktorarbeit angefangen und schon fertiggestellt habe, dazu aber auch noch Vorlesungen und Praktika erledigt hat und auch keineswegs die Lektüre der so lang vermißten schönen Künste versäumt hat. Aber diese Überlegungen liegen im Augenblick wohl zu sehr abseits, als daß man daran festhalten sollte. Schließlich ist es ja auch wieder so, daß die Arbeit der Stunde und des Tages diese und ähnliche Gedanken verdrängen. Sicher aber ist, daß durch diese schnell verlebte Zeit - wenigstens scheint es mir manchmal so - oft dem Schrecken ein guter Teil des Schrecklichen genommen wird, weil man oft garnicht so stark reflektiert wie es sonst wohl wäre. Was allerdings nachher, später bleibt, ist nicht geklärt. Dafür aber hat man ja auch später bessere Möglichkeiten, um sich einen Ausgleich zu verschaffen.
Es ist nun wieder nicht so, daß man ohne Nachdenken in den Tag hineinlebt. Vor allem sind es die ersten Abendstunden oder auch die wachen Stunden der Nächte, die einem viel Zeit zu Überlegungen geben. Schon abends um acht Uhr ist es hier dunkel, sodaß man auch nicht mehr lesen kann, und so nur sich und seinen Gedanken überlassen bleibt.
Nur selten mal findet sich die Gelegenheit zu einem Gespräch, denn die Wenigsten haben hier eine Bereitschaft oder das Vermögen dazu. Dann kann man also allein einen Gedanken hernehmen und in seinen Gegebenheiten und Möglichkeiten weiterführen. Es ist so, daß man aus so weiter Entfernung eine Distanz zu den Dingen bekommt, die gut und schlecht zugleich sein kann. Eigen ist solchen Überlegungen die Leichtigkeit eines Seiltänzers, der über die Klüfte hinwegsteigen kann, ohne an ihren Schwierigkeiten hängen zu bleiben oder Schaden
an ihnen zu nehmen. Die Gefahr also, zu Phantastereien zu gelangen ist groß, aber manchmal auch so wunderbar schön. In diesen Zeiten, da man ein anderes Leben führen muß, werden sicher viele tolle Pläne geboren, ob aber alle lebensfähig und zum Wachsen bestimmt sind, kann kein Mensch vorhersagen. Vielleicht aber sind diese Art Pläne auch wieder ein guter Teil Fluchtversuche vor dem täglichen Einer- und Allerlei. Es wird sich das erst zeigen nach all diesen Ereignissen.
Das Semester ist wieder zu Ende, und Du freust Dich über die ruhigen Wochen daheim. Wenn die Geschütze damals nicht so laut gedonnert hätten, müßte ich schon das feine Klingen der Gläser am Abend des Semesterendes gehört haben. Ich weiß nicht mehr, ob gerade an diesem Tag meine Gedanken bei Euch in Bonn waren. Ich danke jedenfalls für Euer Gedenken und begleite meine Gedanken mit allen guten Wünschen. Ob ich falsche Überlegungen anstelle, wird sich mir schon zeigen, wenn ich wieder in Eurem Kreise sein darf und in gleicher Weise leben kann. Jedenfalls ziehe ich keine falschen Schlüsse, das kann ich sicher behaupten.
Inzwischen wirst Du wohl meinen Brief vom 25. VII. erhalten haben. Seitdem sind schon wieder viele Tage vergangen, die besonders hier manche Veränderung brachten. Nun ist auch die russische Landschaft bewegter und dadurch bunter und abwechslungsreich. Bestimmt, an manchen Stellen ist es sogar schön. Heute, am Sonntag, liegen wir am Rande eines herrlichen Kiefernwaldes, die Erde duftet nach geschnittenem Heu und Korn, die Sonne wärmt wieder ordentlich die schon leicht durchgefrorenen Knochen der letzten kühlen Tage und Nächte.
Schreibe mir doch bitte rasch, wo Hein jetzt steckt, d. h. während der Ferien. Daheim ist er doch bestimmt nicht. Was tut sich sonst in Bonn?
Eigentlich kann ich Dir auch sagen, daß es mir wohlgeht. Es ist nicht so schlimm, wie Du es vielleicht meinst. Trotzdem aber macht sich meine Mutter die größten Sorgen, kein Wort der Aufklärung und Beruhigung hilft da noch. Nimm meine herzlichen Grüße und Wünsche entgegen von nurmi.

Quelle: Hrsg. von Anneliese Knoop-Graf und Inge Jens
Willi Graf - Briefe und Aufzeichnungen
ISBN: 3-596-12367-4
S. Fischer Verlag GmbH

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