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Harter Kurs
Am 11. Oktober 1965 berieten in Abwesenheit Walter Ulbrichts das ZK-Sekretariat und weitere Spitzenfunktionäre unter Leitung des damaligen Sekretärs für Sicherheitsfragen des ZK der SED Erich Honecker über aktuelle Probleme der Jugendarbeit. Die Versammelten kamen zu dem Schluß, daß "Entstellungen der Jugendpolitik der Partei" korrigiert werden müßten. Beschlossen wurde beispielsweise, daß allen Gruppen, die "dekadente westliche Musik" spielten, die Lizenz zu entziehen sei. "Gammler" und andere Personen aus dem Umfeld der Beatgruppen, die keiner geregelten Arbeit nachgingen, seien, falls sie gegen die Gesetze der DDR verstießen, in Arbeitslager einzuweisen. Die FDJ-Führung hatte die Begeisterung der DDR-Jugend für englische Beatgruppen wie die Beatles und die Rolling Stones kanalisieren wollen und im Mai 1965 zu einem nationalen Gitarrenwettbewerb aufgerufen. Dieser wurde auf Weisung der Partei im Sommer abgebrochen, weil sich herausstellte, daß die Gruppen sich vorwiegend an englischen Bands orientierten. Die FDJ-Führung schwenkte auf den harten Kurs ein und bezeichnete die Gitarrenwettbewerbe als Fehler. Im Herbst 1965 wurden die Bezirke angewiesen, alle Beatgruppen zu registrieren, vorzuladen und ihnen bei Verstoß gegen die 60/40-Regelung (wonach die Mehrheit der Unterhaltungsmusik aus DDR- bzw. sozialistischer Produktion zu stammen hatte), bei "Excessen" auf und vor der Bühne, bei englischen Bandnamen, "ungepflegtem Äußeren", mangelnder Notenkenntnis, Verdacht auf "Arbeitsbummelei" der Musiker, zu hohen Gagenforderungen oder zu niedrigen Steuerzahlungen, die Lizenz - so überhaupt vorhanden - zu entziehen" (Dorothee Wierling in: Sozialgeschichte der DDR). Im Bezirk Leipzig betraf dies 54 von 58 Bands. Daraufhin versammelten sich am 31. Oktober 1965 500 bis 800 jugendliche Anhänger der Beatgruppen aus dem ganzen Bezirk auf dem Leuschner-Platz in der Leipziger Innenstadt, um gegen den Lizenzentzug und das damit verbundene Auftrittsverbot der Gruppen zu protestieren. Es war die größte verbotene Demonstration seit dem 17. Juni 1953. Die Jugendlichen wurden von Einheiten der Kasernierten Volkspolizei auseinandergetrieben. Mehr als 250 wurden zu ein- bis dreiwöchiger Zwangsarbeit in die umliegenden Braunkohlegruben transportiert. Einigen sogenannten "Rädelsführern" wurde später der Prozeß gemacht. Die Leipziger Geschehnisse waren ein Indiz mehr für den Umschwung in der DDR-Innenpolitik, der sich im Herbst 1965 vollzog. Parteioffiziell besiegelt wurde er auf dem Dezember-Plenum des ZK der SED 1965. Ursprünglich sollten nur Wirtschaftsfragen behandelt werden, doch dann drehten sich die ungewöhnlich langen Diskussionen des Plenums vor allem um Kultur- und Jugendpolitik. In seiner Grundsatzrede rechnete Erich Honecker mit der offenen Politik seit 1963 ab. An den jüngsten "Ausschreitungen" von Jugendlichen seien vor allem Filme, Fernsehsendungen, Theaterstücke, Romane und Zeitschriftenartikel schuld, deren antihumanistische Darstellungen Brutalität und sexuelle Triebhaftigkeit propagierten. Ausdrücklich erwähnte Honecker in diesem Zusammenhang die Filme "Das Kaninchen bin ich" und "Denk bloß nicht, ich heule". Namentlich genannt wurden Wolf Biermann, dem Honecker Verrat am Staat und an seinem von den Nazis umgebrachten Vater vorwarf, sowie Stefan Heym, dessen Roman "Der Tag X" über den 17. Juni 1953 die Wahrheit entstellt habe. FDJ und Partei hätten die schädlichen Einflüsse der Beat-Musik grob unterschätzt. Die Ursache dieser Mißstände sei ein ungenügendes marxistisches Weltbild der Künstler, ihre geringe Kenntnis von der Politik der Partei und ihr Hang zum "philosophischen Skeptizismus". All diese Erscheinungen stimmten "objektiv mit der Linie des Gegners" überein, der die DDR "im Zuge einer sogenannten Liberalisierung" von innen her aufweichen wolle. Nach dem "Kahlschlagplenum" erhielt Biermann in der DDR absolutes Auftritts- und Veröffentlichungsverbot. Stefan Heyms Buch "Fünf Tage im Juni" konnte nur im Westen erscheinen. Die DEFA (Abk. für Deutsche Film AG, die in der DDR das Monopol zur Herstellung von Filmen besaß) zog fast eine ganze Jahresproduktion von Filmen aus dem Verkehr, Dreharbeiten zu weiteren "Kaninchen-Filmen" wurden abgebrochen. Das 11. Plenum war ein vollständiger Sieg des Parteiapparats über künstlerische Autonomie und die Ansprüche von Jugendlichen auf einen selbstbestimmten Freiraum. 1966 wurde das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZJF) gegründet - ein Jahr nach der Errichtung des Deutschen Jugendinstituts in München. Das ZJF untersuchte Trends, Ursachen und Erscheinungen jugendlicher Aktivitäten. Eine Untersuchung des ZJF über die Befindlichkeit der DDR-Jugend von 1969 ("U69") machte zum Beispiel deutlich, wie weit die FDJ davon entfernt war, die jungen Menschen in der DDR anzusprechen, sie in politische Diskussionen einzubeziehen und ihre aktive Mitwirkung in der sozialistischen Gesellschaft zu erreichen. Die Mitgliedschaft war zur Formsache verflacht. Das Verbandsleben war erstarrt und unmodern. Selbst Veranstaltungen im Freizeitbereich (Kultur und Kunst, vor allem Musik und Sport) präsentierten sich oft nicht besonders attraktiv. Die Resonanz auf politische und ideologische Themen war in der Regel negativ. Zunehmende Ausstiegs- und Verweigerungstendenzen wurden in der Öffentlichkeit geheim gehalten und selbst in den Führungsgremien der FDJ nur mit äußerster Zurückhaltung angesprochen. Wie es scheint, gelang es SED und FDJ Ende der sechziger Jahre, nur eine kleine Minderheit der Jugendlichen für sozialistische Ziele zu begeistern. Dieser politisch zuverlässige Teil der Jugend war aber kaum in der Lage, den großen Rest zu Engagement zu motivieren.Quelle: "Informationen zur politischen Bildung", Copyright Bundeszentrale für politische Bildung www.bpb.de
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