Jugend
Seit der Jahrhundertwende gab es in der Jugend Ansätze zur Entwicklung erwachsenenunabhängiger Zusammenschlüsse mit eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, insbesondere die romantisch-naturverbundene bürgerliche "Wandervogel"-Bewegung, die als "bündische Jugend" nach dem Krieg weiter existierte. In den zwanziger Jahren bildeten erwerbslose Heranwachsende aus den Unterschichten in den Großstädten zuweilen "Wilde Cliquen", die ihren Protest gegen die Unsicherheit der eigenen Zukunft und die Dürftigkeit ihrer materiellen Verhältnisse "krass materialistisch und nicht selten jenseits der Legalität" (Heinrich August Winkler) auslebten. Den unterschiedlichen Tendenzen zur unkontrollierten Eigenentwicklung versuchte der Staat, entsprechend dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922, durch Einrichtungen der Jugendfürsorge und Angebote der Jugendpflege entgegenzuwirken. Anfang der dreißiger Jahre gehörten von neun Millionen Jugendlichen knapp vier Millionen einer Jugendorganisation an. Am beliebtesten waren Sportvereine (zwei Millionen) sowie katholische und evangelische Jugendverbände (eine Million bzw. 600000). Dahinter schob sich in weitem Abstand die "Hitler-Jugend" (HJ) (100000) vor die - an Mitgliederschwund leidende - SPD-nahe "Sozialistische Arbeiterjugend" (SAJ) (90000). Es folgten die "bündischen" Jugendgruppen (70000) und der "Kommunistische Jugendverband Deutschlands" (KJVD) (55000). Gleichwohl verbrachten die meisten jungen Leute ihre Freizeit vorzugsweise im Freundeskreis, gingen auf Wanderfahrt und nutzten die Möglichkeiten der neuen "Massenkultur" (siehe Seite 44): Grammofon, Radio und Kino, Gaststätten und Tanzlokale. Die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen der Weimarer Zeit (hauptsächlich die Angehörigen der Jahrgänge 1897 bis 1917) waren - je nach Geburtsjahr - durch einschneidende Erfahrungen geprägt: durch das seelisch verwüstende Kriegs- bzw. Fronterlebnis ("verlorene Generation"), das vaterlose Aufwachsen und die Entbehrungen während des Krieges, die Nachkriegskrisen (die eine hohe Jugendkriminalität erzeugten), die Stabilisierungsjahre oder schließlich den unmittelbaren Übergang von der Schule in die Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise ("überflüssige Generation"). Chancengleichheit im Bildungsbereich erfuhren sie nicht: Wegen des weiterhin erhobenen Schulgeldes blieb Unterschichtkindern der Zugang zu höheren Schulen in der Regel versperrt. Indessen trafen in den zwanziger Jahren entlassene Volksschüler ebenso wie examinierte Studenten auf einen gesättigten, zunehmend überfüllten Arbeitsmarkt, auf dem sie sich gegenüber den etablierten älteren Generationen nur schwer durchsetzen konnten und (zumal wenn sie weiblichen Geschlechts waren) als erste wieder entlassen wurden. Die soziale Unzufriedenheit vieler Jugendlicher äußerte sich nicht zuletzt in der Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Dasein und nach Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Gegensätze; von der bürokratischen Politik in den Parlamenten und von den überalterten Parteien und ihren einflusslosen Jugendorganisationen fühlten sich vor allem die außerhalb des katholischen und des Arbeitermilieus stehenden Jugendlichen eher abgestoßen. Dies machte sich ab Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 die extreme Rechte mit wachsendem Erfolg zunutze: Hitler - als Angehöriger des Jahrgangs 1889 einer der jüngsten Politiker - verstand es, die NSDAP als Partei der Jugend und des Aufbruchs zu einer nationalen "Volksgemeinschaft" unter seiner Führung darzustellen. Auch boten HJ und SA nicht zuletzt die Chance, jugendliche Misserfolgserlebnisse und Ohnmachtserfahrungen durch zielgerichteten Aktivismus auszugleichen. Quelle: "Informationen zur politischen Bildung", Copyright Bundeszentrale für politische Bildung www.bpb.de
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