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Journalseite November 2019
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Buchauszug
In anderen Berichten wurde zwar geschmeidig die amtliche Sprachregelung angewendet, dann aber die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß viele nicht mit dem Pogrom einverstanden waren. »Die jüdische Mordtat an dem deutschen Gesandtschaftsrat in Paris löste in allen Kreisen der Bevölkerung helle Empörung aus; allgemein wurde ein Einschreiten der Reichsregierung erwartet. Die gegen das Judentum gerichteten gesetzlichen Maßnahmen fanden deshalb vollstes Verständnis. Um so weniger Verständnis brachte der Großteil der Bevölkerung für die Art der Durchführung der spontanen Aktion gegen die Juden auf; sie wurde
vielmehr bis weit in Parteikreise hinein verurteilt. In der Zerstörung von Schaufenstern, von Ladeninhalten und Wohnungseinrichtungen sah man eine unnötige Vernichtung von Werten, die letzten Endes dem deutschen Volksvermögen verlorengingen, und die in krassem Gegensatz stehe zu den Zielen des Vierjahresplans, insbesondere auch zu den gerade jetzt durchgeführten Altmaterialsammlungen. Auch die Befürchtung wurde laut, daß bei den Massen auf solche Weise der Trieb zum Zerstören wieder geweckt werden könnte. Außerdem ließen die Vorkommnisse unnötigerweise in Stadt und Land Mitleid mit den Juden aufkommen. «
Aus Unterfranken wurde sogar gelinder Protest gemeldet, der sich in der Verweigerung von Spenden für das Winterhilfswerk der NSV - die bei den »Eintopfsonntagen« eingeworben wurden - äußerte. Verursacht war die Verweigerung der ländlichen Bevölkerung weniger durch Mitgefühl mit den Juden als durch die Mißbilligung des Vandalismus gegen Sachwerte und Lebensmittel: »Die Empörung über den feigen jüdischen Mord an dem Gesandtschaftsrat vom Rath führte in der Nacht vom 9. auf 10. November im ganzen Regierungsbezirk zu judenfeindlichen Kundgebungen, denen allenthalben die Synagogen sowie eine Anzahl jüdischer Laden- und Wohnungseinrichtungen zum Opfer fielen. Die Sühnemaßnahmen und insbesondere die Auferlegung einer Geldbuße werden allgemein gebilligt. Von einem Großteil, insbesondere der ländlichen Bevölkerung, wird bedauert, daß bei den Aktionen Werte vernichtet wurden, die mit Rücksicht auf unsere Rohstofflage zweckmäßigerweise der Allgemeinheit hätten nutzbar gemacht werden können. Beanstandet wurde ferner, daß die Aktion auch noch nach dem Erlaß des Herrn Reichspropagandaministers, der die sofortige Einstellung anordnete, fortgesetzt wurde und insbesondere auch Lebensmittel mutwillig vernichtet worden seien. So wurden in Obereisbach, Bezirksamt Bad Neustadt a. d. Saale, 3'/2Ztr. Mehl in den Mist und eine Kiste Vorratseier auf die Straße geworfen. Nach dem Berichte eines Bezirksamts haben bei der darauffolgenden Eintopfsammlung viele Volksgenossen erklärt, nachdem so viele Vermögenswerte unnütz vernichtet worden seien, könnten sie sich nicht entschließen, etwas zur Sammlung zu geben. Befürchtungen in bezug auf die Gebefreudigkeit zum Winterhilfswerk werden auch von anderen Bezirksämtern geäußert.« Sowenig amtliche Berichte der geeignete Ort für Gefühlsäußerungen sind, so fällt doch auf, mit welcher Kaltschnäuzigkeit jüdische Todesopfer, die als Folge des Pogroms zu beklagen waren, erwähnt sind. Das Bedauern über die vernichteten Güter war allemal größer, und die Meinung war oft zu hören, man hätte mit weniger rabiaten Mitteln die jüdischen Mitbürger enteignen, entrechten, verdrängen und verjagen können. Im übrigen blieb man kühl und gelassen wie der Oberbürgermeister von Ingolstadt, der rapportierte: »Die Aktion gegen die Juden wurde rasch und ohne besondere Reibungen zum Abschluß gebracht. Im Verfolg dieser Maßnahme hat sich ein jüdisches Ehepaar in der Donau ertränkt.« War das Zynismus oder Barbarei? War es mangelnde Zivilcourage, Feigheit und der Drang, sich anzupassen, waren es die Früchte der Propaganda, oder war es Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus - generelle Mißbilligung des Pogroms und Wegschauen bei persönlicher Konfrontation mit dem Unglück der Juden gingen Hand in Hand. Dazu ein letztes Beispiel. Vier Wochen nach dem Pogrom vergiftete sich in Bayerisch Gmain bei Bad Reichenhall die 67jährige Klara Dapper. Sie hatte, seit 1924 verwitwet, zurückgezogen in ihrem Haus gelebt. In der Nacht zum 10. Dezember 1938 hatten Unbekannte ihr einen Zettel an die Haustür gehängt: »Alle Juden endlich einmal heraus.« Frau Dapper, die seit langem in Angst lebte, beging Selbstmord mit Veronal. Im Polizeibericht hieß es dazu lakonisch: »Die Ortschaft Bayerisch Gmain ist somit judenfrei.« Der Bericht war ein bißchen retuschiert, der Todestag selbst - 13. Dezember - stimmte, aber der Anlaß des Todes war falsch datiert. Damit wurde verschleiert, daß Frau Dapper drei Tage im Todeskampf gelegen hatte. Das Hausmädchen fand sie am Morgen des 10. Dezember bewußtlos und verständigte mehrere Ärzte in Bad Reichenhall, die aber die Behandlung ablehnten. Es gab keine gesetzliche Bestimmung, die »arischen« Ärzten die Hilfeleistung verboten hätte, und den Eid des Hippokrates, der sie zur Hilfeleistung verpflichtete, hatten sie alle einmal geschworen. Als ein jüdischer Doktor schließlich gefunden wurde, war es zu spät.

Quelle: Wolfgang Benz
Der Judenpogrom 1938
ISBN: 3-596-24386-6
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. Main 1999, 8,45 Euro

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