1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Machtergreifung
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Buchauszug
Die private Sorge schob er auf und übernahm die Organisation der Abreise (und dann der Begleitung) der Kinder: »Oft arbeiteten wir die ganze Nacht durch. Die politische Lage verschlechterte sich von Minute zu Minute, und wir wollten unser Ziel von 10000 Kindern so rasch wie möglich erfüllen. Wir meinten, dies noch vor Ablauf der Jahresfrist bewerkstelligen zu können. Unsere Aufgabe bestand darin, die Transporte entsprechend den in den Zügen verfügbaren Plätzen zu planen. Nach der Bearbeitung der Anträge durch das Innenministerium in England wurden diese zusammen mit den entsprechenden Bewilligungen wieder an uns zurückgeschickt, und wir verständigten dann die Eltern, dass ihre Kinder eine Einwanderungserlaubnis für England bekommen hatten. Oft kam es vor, dass Eltern nur für ein Kind eine Einreisebewilligung bekamen, für dessen Geschwister aber nicht. In einem solchen Fall mussten wir den Eltern sagen, dass es uns Leid tue, wir aber nur jene Kinder aufnehmen könnten, die bereits eine Bewilligung in Händen hätten. Darauf hatten wir keinen Einfluss. Wir waren sehr offen zu den Eltern und bemühten uns, sie davon zu überzeugen, dass hier keinerlei Diskriminierung mit im Spiel war. Sobald wir drei- oder vierhundert Bewilligungen beisammenhatten, legten wir sofort ein Datum für die Abreise des Transportes fest. Die Kinder trafen sich an einem vorgegebenen Platz, z. B. dem Bahnhof in Berlin. Kinder, die aus dem östlichen Teil Deutschlands oder aus Polen kamen, mussten rechtzeitig für den Transport nach Berlin gebracht werden. Wenn die Eltern über die nötigen finanziellen Mittel verfügten, begleiteten sie sie. Andernfalls mussten die Kinder allein fahren. Sie trafen entweder am Morgen des Abreisetages ein oder mussten dann noch eine Zeit lang bei Verwandten oder Freunden bleiben. Damit konnten wir uns nicht auch noch beschäftigen. Es wäre einfach zu viel für uns gewesen. Norbert Wollheim beschreibt die Abreise der Kinder aus der Perspektive des Verantwortlichen für die Organisation: »Die Polizei bestand darauf, dass die Eltern ihre Kinder nicht zum Zug begleiten durften [...], dass der Abschied nicht in der Öffentlichkeit bemerkbar sein durfte.« Ein separater Warteraum war deshalb für die Kindertransporte eingerichtet worden. »Kurz vor der Abfahrt stieg ich auf einen Stuhl, er war meine Kommandobrücke, und erklärte den Eltern, dass die Stunde des Abschieds gekommen war. Ich bat die Eltern, hier Lebewohl zu sagen, da die Polizei den strikten Befehl erlassen habe, dass wir die Kinder zur Bahn führen sollten, die Eltern müssten hier zurückbleiben. Und ich bat sie um Verständnis und um ihre Mithilfe, weil nur ihre Zurückhaltung die Weiterführung der Transporte garantieren könne ... Später habe ich mich oft gefragt, woher ich den Mut hatte, dies den Eltern zu sagen. Ich kann nur sagen, dass wir damals nicht wussten und es auch nicht vorhersehen, nicht einmal ahnen konnten, dass es für die meisten von ihnen der Abschied für immer sein würde, dass die meisten Kinder ihre Eltern nie wieder sehen würden.«
Norbert Wollheim gehört zu den Heroen der Kindertransporte. Durch sein Engagement verpasste er die eigenen Chancen zur Flucht. Er kehrte immer wieder nach Deutschland zurück, wenn er einen Transport nach Großbritannien begleitet hatte. Er engagierte sich dann als Referent bei der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in der handwerklichen Ausbildung der aus ihren Berufen verdrängten Juden, im Herbst 1941 wurde er zur Zwangsarbeit verpflichtet. Am 8. März 1943 wurde er mit seiner Frau und dem dreijährigen Sohn in Berlin-Halensee verhaftet und über das Sammellager in der Großen Hamburger Straße am 12. März nach Auschwitz deportiert. Frau und Kind sah er bei der Ankunft zum letzten Mal. Als Häftling verrichtete er Schweißarbeiten bei der Montage des Bunawerks der I. G. Farben in Auschwitz-Monowitz, wurde im Januar 1945 nach Sachsenhausen »evakuiert«, dann auf einen Todesmarsch getrieben, aus dem er sich irgendwo in Mecklenburg durch Flucht selbst befreite.
Er war dann von Lübeck aus beim Wiederaufbau jüdischer Organisationen tätig und 1952 Kläger im Musterprozess gegen die I. G. Farben.12 Für die Entschädigung der Zwangsarbeiter war dieser Prozess, der 1957 mit einem Vergleich zu ihren Gunsten endete, ein Meilenstein. Norbert Wollheim war 1950 in die USA ausgewandert. Er gründete eine neue Familie und eine neue Existenz als Wirtschaftsprüfer. 1998 ist er in New York gestorben.
Das Trauma der Trennung gehört zum Schicksal der emigrierten Kinder und hat oft auch noch die nächste Generation erfasst. Für die Eltern, die in Deutschland zurückblieben, war der Abschied von den Kindern meist der Beginn der Katastrophe, die in Theresienstadt oder Auschwitz, in einer Erschießungsgrube, in der Gaskammer, im elenden Ghettotod durch Verhungern oder Misshandlung endete. Für die Helfer und Mitwirkenden der Kindertransporte waren - wie Norbert Wollheims Leben zeigt - die Ereignisse ähnlich wie für die Eltern Stationen des Holocaust.


Quelle: Wolfgang Benz, Claudia Curio, Andrea Hammel (HG)
Die Kindertransporte 1938/39
ISBN: 3-596-15745-5
Fischer Taschenbuch Verlag, 12,90 Euro
S. Fischer Verlag GmbH

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