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Die 68er-Bewegung und ihre Folgen
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Buchauszug
Ihre überhöhte Bedeutung für die Protestbewegung gewannen diese Gesetze allerdings erst dadurch, dass sie ausgerechnet in den Wochen, in denen die politische Atmosphäre durch das Dutschke-Attentat und die Osterunruhen ohnehin stark aufgeheizt war, zur Beratung auf dem Terminplan des Bundestages standen. So fanden der vom Kuratorium «Notstand der Demokratie» organisierte Sternmarsch auf Bonn am 11. Mai 1968, der Aufruf zu einem politischen Generalstreik in den Betrieben und Universitäten am 27. Mai sowie eine Vielzahl lokaler Aktionen, wie Theaterbesetzungen, in den Tagen vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai eine sehr viel größere Aufmerksamkeit, als es unter normalen Umständen wohl der Fall gewesen wäre. Die «treibhausartige Mobilisierung der kritischen Studentenschaft und der außeruniversitären Opposition» auf dieses Thema hin konnte das Inkrafttreten der Gesetze indessen nicht verhindern und erwies sich deshalb letztlich als kontraproduktiv, weil die totale Fixierung auf einen Gegenstand, der diese Aufmerksamkeit von der Sache her nicht verdiente, zur Frustration der Demonstranten führen musste. Tatsächlich bedeutete das Scheitern des Kampfes gegen die Notstandsgesetze den Anfang vom Ende der Protestbewegung. Hier bewahrheitete sich, was Rudi Dutschke seit langem behauptet hatte: Wer in der Politik etwas durchsetzen wollte, durfte nicht nur - als außerparlamentarische Opposition - in der Kritik verharren, sondern musste sich an den Entscheidungsprozessen selbst beteiligen und den «Marsch durch die Institutionen» antreten.
Zur Ernüchterung der Protestbewegung trugen jedoch auch Entwicklungen außerhalb Deutschlands bei. So war das Auflodern der Proteste im «Pariser Mai» nur von kurzer Dauer. Der «Prager Frühling» wurde durch den Einmarsch von Truppen aus fünf Warschauer-Pakt-Staaten am 21. August 1968 jäh beendet, wobei die demonstrative Parteinahme der im September 1968 neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) für die gewaltsame Zerschlagung des tschechoslowakischen Reformmodells den ideologischen Minimalkonsens der linken Gruppierungen in der Bundesrepublik endgültig zerbrechen ließ. Und der mit dem Versprechen errungene Sieg Richard M. Nixons bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November 1968, die USA aus dem Vietnam-Krieg zurückzuziehen, nahm sogar diesem Thema seine Brisanz, obwohl der Krieg in Indochina selbst noch bis 1975 andauerte. Die weit überwiegende Zahl der Studenten kehrte nun in die Hörsäle, Seminarräume und Bibliotheken zurück, während sich der SDS - nicht zuletzt in der Gewaltfrage, etwa bei Springer-Blockaden - zunehmend radikalisierte und immer weiter von der gesellschaftlichen Realität entfernte.
Auf der Osterkundgebung der «Kampagne für Demokratie und Abrüstung» 1969 in Frankfurt kam es zum Eklat, als Vertreter der Kampagne dem SDS «blinden Aktionismus», «masochistische Prügeleien mit der Polizei» und einen unberechtigten «Alleinvertretungsanspruch für politischen Widerstand» vorwarfen. Der SDS seinerseits rief zu «direkten Aktionen» gegen die Politik und die Institutionen «repressiver Macht» auf und plädierte dafür, den Kapitalismus in Gegenmodellen «direkter Demokratie» physisch anzugreifen. Nach dem Muster der Guerilla sollte eine Politik der «befreiten Gebiete» Inseln rätedemokratischer Gegenmacht schaffen, um von der Phase der «Doppelherrschaft» zur Abschaffung jeder Herrschaft überzuleiten. Da das Bewusstsein für eine solche Revolution bei der Bevölkerung noch nicht vorhanden war, sollten Provokationen den «latenten Faschismus» in «manifesten Faschismus» umschlagen lassen, um ihn so für die Massen durchschaubar zu machen und damit die Manipulation des spätkapitalistischen Systems zu beenden. Allerdings trugen solche Forderungen nur zur weiteren Isolierung des SDS innerhalb der Studentenschaft und zum Abgleiten von Teilen der Protestbewegung in den konspirativen Terrorismus bei. Erste linksterroristische Aktionen, wie Bombenanschläge auf Einrichtungen der US-Armee, hatte es bereits 1968 gegeben. Diese Aktivitäten nahmen nun - nicht zuletzt als Zeichen politischer Frustration und Resignation - weiter zu.

Quelle: Manfred Görtemaker
Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
ISBN: 3893314563
C.H. Beck Verlag, München 2002, 24,90 Euro

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