1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Widerstand
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Buchauszug
Jüdischer Widerstand in Deutschland

In Deutschland gab es bis zum 20. Juli 1944 praktisch keinen bewaffneten Widerstand. Aber auch der politische Widerstand in einem totalitären, gleichgeschalteten Polizeistaat war fast unmöglich. Trotzdem hat es viele Formen jüdischer Auflehnung gegen staatliche Maßnahmen gegeben, die man dem politischen Widerstand zurechnen kann. Dabei muss Folgendes bedacht werden: Die jüdische Gemeinschaft war isoliert und wehrlos. Jüdische Gemeinden waren Gesamtgeiseln und mussten später im Krieg für die Handlungen ihrer Jugendlichen büßen. Ein Beispiel: Als Vergeltung für den Anschlag auf die Nazipropagandaausstellung »Das Sowjetparadies« im Berliner Lustgarten durch die jüdische Widerstandsgruppe von Herbert Baum im Mai 1942 wurden 500 Juden verhaftet, von denen die Hälfte sofort von der SS erschossen und die restlichen 250 später im KZ Sachsenhausen liquidiert wurden. Fast alle Mitglieder der Baum-Gruppe wurden in mehreren Prozessen vor dem Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Jüdische Funktionäre hatten vergeblich versucht, die Aktion der Baum-Gruppe, die ihrer Ansicht nach niemandem nutzte, zu unterbinden. Da die verbliebenen jüdischen Führer 1942 nicht mit Sicherheit wissen konnten, dass das Todesurteil über alle Juden bereits ausgesprochen war, muss man ihre kritische Haltung verstehen. Hunderte von jüdischen Aktivisten wurden im Verlauf der Aufdeckung und Zerschlagung von Widerstandsgruppen inhaftiert, und viele setzten ihre Arbeit selbst in den Konzentrationslagern fort.
Aber deutsche Juden konnten sehr wohl - nach ihrer Emigration - den Kampf aufnehmen, und das haben sie auch getan. Hunderte Freiwillige kämpften im spanischen Bürgerkrieg, Tausende deutscher Juden dienten in den Armeen der Alliierten. Viele von ihnen dienten als Freiwillige in Kommandotruppen, die gefährliche, fast selbstmörderische Aktionen durchführten. Bei Gefangennahme waren sie als Deutsche besonders gefährdet. Später stießen Tausende von Juden aus Deutschland zu den Untergrundbewegungen der besetzten Länder. Sie kämpften in der Resistance, in Italien, in Jugoslawien und in anderen Widerstandsbewegungen. Der antifaschistische Aktivismus wurde überwiegend von jüdischen Jugendlichen getragen, die sich in erster Linie der deutschen Arbeiterbewegung und nicht der jüdischen Gemeinschaft verpflichtet fühlten.
Nach der Pogromnacht erklärte die verfolgte konspirative Leitung der KPD ihre Solidarität mit den verfolgten Juden. Die »Rote Fahne«, das illegale Organ der KPD, brachte im November 1938 eine Sonderausgabe unter dem Titel "Gegen die Schmach der Judenpogrome"! Später wurden die Juden allerdings aus den kommunistischen Organisationen ausgegrenzt, da sie ihre nichtjüdischen Genossen mehr gefährdeten als ihnen dienten. Die Kommunisten haben die größten Opfer gebracht und deshalb waren und bleiben sie die Helden des deutschen Widerstandes.
Relativ wenige Historiker haben die Geschichte des Widerstands deutscher Juden erforscht. Zu ihnen zählen Helmut Eschwege, Konrad Kwiet und Arnold Paucker, der folgende Zahlen über die Beteiligung der Juden am Widerstand innerhalb Deutschlands nennt. Ungefähr 2000 Juden waren zwischen 1933 und 1943 zu verschiedenen Zeitpunkten aktiv in der direkten Untergrundarbeit tätig gewesen. Wenn man dabei bedenkt, dass die jüdische Bevölkerung vom Januar 1933 bis zum Kriegsausbruch im September 1939 wegen der forcierten Auswanderung von 550000 auf 200000 zusammenschmolz, und dies prozentual zur deutschen Bevölkerung setzt, würde die jüdische Ziffer einer Massenbewegung von 600000 bis 700000 aktiven deutschen Antifaschisten entsprechen. Und davon konnte doch nicht die Rede sein! Es hat also in Deutschland durchaus einen höchst eindrucksvollen jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gegeben.

Quelle: Arno Lustiger
"Wir werden nicht untergehen"
ISBN: 3-550-07546-4
Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG

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