1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Antisemitismus
Seite 1 | 2 | 3 
Wieder zu Hause?
Paul Spiegels Erinnerungen.
Ein jüdisches Leben in Deutschland, das ebenso widersprüchlich wie abenteuerlich, einzigartig wie exemplarisch ist.
Autor: Paul Spiegel
ISBN: 3-89834-041-4

Buchauszug
Vater sprach nie über seine Zeit im KZ. Nur indirekt erfuhr ich gelegentlich Einzelheiten. Vater hasste beispielsweise Möhren. Irgendwann rutschte ihm heraus: »Danke, davon hab ich im Lager genug gekriegt. Jahrelang nix als Möhren.« So erfuhr ich, dass mein Vater in der Lagerküche gearbeitet hatte. Mehr aber nicht. Der Schrecken des Lagers ließ die meisten ehemaligen Häftlinge über Jahre und Jahrzehnte verstummen. Sie waren unfähig, über ihre Leidensjahre zu berichten. Bei einigen löste sich im Laufe der Zeit die Blockade, sie lernten über die Zeit zu sprechen, sich anderen mitzuteilen. Manche stolze und empfindsame Persönlichkeiten wie Ignatz Bubis oder eben mein Vater blieben jedoch ihr
Lebtag unfähig, sich über die Jahre ihrer fortwährenden Erniedrigung zu äußern. Sie blieben stumm, auch gegenüber ihren Frauen. Die Demütigung und die Angst hielten ihre Seelen gefangen.
Wenige Tage nach der Befreiung verließ Vater das Lager, wo die ehemaligen Häftlinge von amerikanischen Ärzten und Sanitätern sowie Vertretern internationaler Hilfsorganisationen versorgt wurden. Fast niemand weiß, dass in den ersten Wochen nach dem Ende des Schreckensregiments nochmals Zehntausende Gefangene starben. Diese Menschen wurden zuletzt nur noch von dem Willen am Leben gehalten, ihre Befreiung zu erleben. Sie wurden von ihren Mithäftlingen mitleidig als »Muselmänner« tituliert. Ausgemergelt, krank und abgestumpft, unfähig, mit anderen zu kommunizieren, glichen diese Häftlinge Robotern. Sie funktionierten, nahmen aber das Geschehen um sich herum kaum wahr. Überleben, nur das Überleben war ihr Bestreben. Als dieses Ziel plötzlich unverhofft erreicht war, brachen viele von ihnen körperlich und seelisch zusammen. Selbst geduldige Hilfe, medizinische Behandlung und Verpflegung waren vergeblich. Sie starben — ohne die ersehnte Freiheit ausgekostet zu haben.
Vater aber hatte sich trotz jahrelanger Unterernährung seine Widerstandskraft bewahrt. Wenige Tage genügten ihm, sich ordentlich satt zu essen und Reisegeld zu organisieren. Zivile Kleidung zu beschaffen war ihm nicht möglich — so machte er sich in der Lagerkluft auf den Weg nach Hause.
Zuhause - das war und blieb für meinen Vater Warendorf im Münsterland. Obwohl er bereits 1938
von SA-Kerlen blutig geschlagen worden war, drei Jahre in Auschwitz verbracht hatte, und vor seinen Augen unzählige Menschen von Deutschen ermordet worden waren, habe ich von ihm nie eine abwertende Bemerkung über »die« Deutschen gehört. Er kannte und verachtete die Nazis auch und besonders in seiner Heimatstadt. Doch er war Deutscher und Warendorf war sein Zuhause. Anders als Mutter wäre mein Vater daher nie auf die Idee gekommen, sein Land zu verlassen. Auch nach dem schlimmsten Menschheitsverbrechen blieb Hugo Spiegel Deutscher.
Seite 1 | 2 | 3 
Druckversion Druckversion
Fenster schliessen
Fenster schliessen