1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Deutsche Revolution
 

Oktoberverfassung
Ausgerechnet in diesen kritischen Wochen versäumte es der Reichstag, sich zum Zentrum der politischen Diskussion über Frieden und Demokratie zu machen - nach der Regierungserklärung des Prinzen Max am 5. Oktober vertagte er sich und überließ alles weitere dem Kanzler und seinen Staatssekretären. Erst am 22. Oktober trat er wieder zusammen, um die inzwischen ausgearbeitete Verfassungsreform zu beraten. Sie enthielt einschneidende Veränderungen:
Kriegserklärungen und Friedensverträge waren nicht mehr allein Sache des Kaisers und des Bundesrates (der starken, an der Gesetzgebung beteiligten Vertretung der Einzelstaaten, in erster Linie der Landesfürsten), sondern bedurften der Zustimmung des Reichstages (der nach dem allgemeinen Männerwahlrecht gewählten Volksvertretung).
Regierungsmitglieder durften dem Reichstag angehören.
Der Reichskanzler und die Staatssekretäre benötigten das Vertrauen des Reichstages. Sie waren dem Reichstag und dem Bundesrat für ihre Amtsführung verantwortlich.
Der Reichskanzler trug die Verantwortung für alle politischen Handlungen des Kaisers.
Personalentscheidungen über Offiziere und Generäle erforderten die Zustimmung des Reichskanzlers.
Mit dem In-Kraft-Treten der Reform am 28. Oktober 1918 verwandelte sich das Kaiserreich, das die deutschen Fürsten "von Gottes Gnaden" ohne das Volk 1871 gegründet hatten, jetzt auch verfassungsrechtlich von einer obrigkeitsstaatlichen in eine parlamentarisch-demokratische Monarchie.
Aufschlussreich ist die Haltung der Parteien zu dieser späten Verfassungsreform. Auf dem rechten Flügel des Reichstages stimmten die von den ostelbischen adligen und bürgerlichen Großgrundbesitzern beherrschte "Deutschkonservative Partei" und die ebenfalls konservative, großagrarisch und schwerindustriell geprägte "Reichspartei" dagegen. Als Träger des monarchischen Obrigkeitsstaates wünschten sie keine Stärkung der Volksvertretung.
Auf dem linken Flügel lehnten die "Unabhängigen Sozialdemokraten" (USPD) die Verfassungsänderung ebenfalls ab. Besonders die Linksradikalen innerhalb der Partei, die sich (wenn auch kritisch) am Vorbild der Oktoberrevolution der russischen Bolschewiki von 1917 orientierten, hielten die parlamentarische Demokratie lediglich für ein politisches System, mit dem sich die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter noch geschickter kaschieren und die Entwicklung zum Sozialismus weiter hemmen ließ.
Demgegenüber stimmten die Parlamentarier der wirtschaftsliberalen, mittelständische und industrielle Interessen vertretenden "Nationalliberalen Partei", die besonders in Fragen der Außen- und Kolonialpolitik den konservativen Parteien stets nahe gestanden hatte, der Reform aus unterschiedlichen Gründen zu: aus demokratischer Überzeugung, aus Furcht vor einer Revolution und aus Einsicht in die Unvermeidlichkeit der Beendigung des Krieges zu Wilsons Bedingungen.
Die "Mehrheitsparteien", die die Verfassungsreform ins Werk gesetzt hatten, sahen sich dagegen am Ziel ihrer langgehegten Demokratisierungswünsche.
Die "Zentrumspartei" als politische Interessenvertretung der deutschen Katholiken aller sozialen Schichten, die der protestantische preußische Ministerpräsident und erste Reichskanzler Otto von Bismarck wegen ihrer Nähe zum Vatikan noch erbittert bekämpft hatte, verband mit der Demokratisierung die Garantie ihrer zukünftigen Existenz und die Chance zur Verstärkung ihres politischen Einflusses im Sinne der katholischen Soziallehre.
Für die von den sozialliberal gesinnten Mittelschichten, Unternehmern und Intellektuellen getragene "Fortschrittliche Volkspartei", die (stärker als die Nationalliberalen) in der Tradition der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 stand, bedeutete die Zurückdrängung der Fürstensouveränität durch die Volkssouveränität die überfällige Anpassung des politisch rückständigen Kaiserreiches an die Erfordernisse der modernen Industriegesellschaft.
Auch die MSPD war mit dem Erreichten bis auf weiteres zufrieden. Zwar stand sie in derselben marxistischen Programmtradition wie die USPD (die sich erst 1917 von ihr abgespalten hatte, weil sie eine weitere Unterstützung der kaiserlichen Kriegspolitik ablehnte). Aber die MSPD repräsentierte jene große Mehrheit der Sozialdemokraten, die aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung mit politischer und gewerkschaftlicher Arbeit die Lage der Arbeiter durch Reformen verbessern und eine sozialistische Gesellschaft ohne revolutionäre Gewalt herbeiführen wollte. In der russischen Revolution von 1917 sah sie ein abschreckendes Beispiel, denn an die Stelle der Zarenherrschaft sei "weder Sozialismus noch Demokratie", sondern nur eine neue "Säbelherrschaft" getreten - so urteilte die Parteizeitung "Vorwärts" vom 15. Februar 1918 über das Regime Lenins und die Bolschewiki. Folglich begriff die MSPD die Demokratisierung der Verfassung als wichtigen Schritt auf dem reformerischen Weg zum Sozialismus.

Quelle: "Informationen zur politischen Bildung", Copyright
Bundeszentrale für politische Bildung
www.bpb.de


 
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