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Deutsche Geschichten


Aufstand DDR
Der 17. Juni 1953 steht für ein Schlüsselereignis der deutsch-deutschen Geschichte. Innenpolitische Missstände eskalierten in einem Volksaufstand.

17. Juni 1953

Am 5. März 1953 starb der sowjetische Partei- und Regie-
rungschef Stalin.

Biographie
Josef W. Stalin

Von seinen Nachfolgern erwartete man ein Nachlassen des innenpolitischen Terrors und eine Verbesserung des Verhältnisses zu den Westmächten. Auch die innenpolitische Situation in der DDR geriet in Bewegung. Gerüchte kursierten, dass der doktrinäre und am stalinisti-
schen Herrschaftssystem festhaltende SED-Generalse-
kretär Walter Ulbricht abgelöst werden sollte. Der neu ernann-
te sowjetische Hohe Kommis-
sar Wladimir Semjonow hatte angeblich entsprechende Weisungen aus Moskau mitgebracht, falls die SED-Führung den sowjetischen Wünschen nach mehr Flexibi-
lität nicht entsprechen sollte. Ende Mai 1953 hatte der Ministerrat der DDR noch eine allgemeine Erhöhung der Normen verkündet und damit

erhebliche Unruhe hervorge-
rufen und die Fluchtbewegung aus der DDR verstärkt, hinzu kamen die schlechte Versor-
gung mit Lebensmitteln und der staatliche Terror durch willkürliche Verhaftungen. Unter sowjetischem Druck machte das SED -Politbüro wirtschaftliche Zugeständnisse und verkündete den »neuen Kurs«. Er brachte Lockerungen des Drucks, Rücknahme von Preiserhöhungen und Verbes-
serungen im Konsum. Die am 28. Mai beschlossene Erhöhung der Normen für Industriebe-
triebe und die Bauwirtschaft um 10% wurde jedoch nicht zurückgenommen. Daraufhin streikten und demonstrierten am 16. Juni die Bauarbeiter in der Ost-Berliner Stalinallee. Daraus entwickelte sich am 17. Juni eine Volkserhebung in der gesamten DDR, in deren Ver-
lauf es in mehr als 560 Orten, darunter alle Industriezentren, zu Streiks und Demonstratio-
nen kam. Rund 10 % der Arbeitnehmer beteiligten sich am Aufstand. Die ursprünglich wirtschaftlichen Forderungen, die von der Rücknahme der Normenerhöhungen ausgingen, entwickelten sich schnell zu weitgehenden politischen Forderungen wie dem Rücktritt der Regierung, der Ablösung Ulbrichts, freien Wahlen. Die SED-Führung war der Lage

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Zeitzeugenbericht:
17. Juni 1953

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Aufstand DDR

Chronologie
Chronologie 1949-1961

nicht gewachsen; sie verlor die Kontrolle und ließ den Aufstand durch sowjetische Truppen niederschlagen. Die Zahl der Todesopfer wird zwischen 25 und 300 angegeben, als Zahl der zu langjährigen Haftstrafen Verurteilten wurden rund 1400 festgestellt. Als Folge des Aufstandes konnte Ulbricht seine Machtposition festigen und wieder mit sowjetischer Rückendeckung rechnen, seine

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innerparteilichen Gegner wurden aus-
geschaltet. Die Westmächte hatten, um ein Kriegsrisiko zu vermeiden, auf ein von der Bevölkerung erwartetes Eingreifen in Ost-Berlin verzichtet und sich auf Proteste beschränkt. Der 17. Juni wurde in der Bundesrepublik Deutschland am 4. August 1953 zum gesetzlichen Feiertag erklärt (bis 1990).

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Volksaufstand

Der Tag im Detail

In den frühen Morgenstunden des 17. Juni finden um Berlin herum Truppenbewegungen statt. Motoren- und Kettengeräusche sind zu vernehmen: Sowjetische Panzer rollen auf Berlin zu. Ihr Ziel ist zunächst das politische und militärische Hauptquartier der sowjeti-
schen Besatzungsmacht in Berlin-Karlshorst. Die dort stationierte 12. Panzerdivision wird verstärkt. In Karlshorst finden sich in dieser Nacht auch SED-Chef Ulbricht, Ministerpräsident Grotewohl, der Chef des Staatssicherheitsdienstes, Wilhelm Zaisser, und andere Mitglieder des Politbüros ein. Gemeinsam mit der sowjetischen Führungsspitze beraten sie den möglichen Einsatz der deutschen Polizei- und Sicherheitskräfte und der sowjetischen Truppen für den kommenden Tag.
Niemand in Karlshorst denkt zu diesem Zeitpunkt daran, dass es in wenigen Stunden überall im Land zu einem Aufstand kommen wird. Als Krisengebiet gilt einzig Ostberlin und als eigentliche Unruhestifterin wird Westberlin identifiziert. Der Einsatz der ostdeutschen Polizei und der sowjetischen Truppen wird deshalb zunächst allein auf Ostberlin zugeschnitten. Da sich ein Großteil der in der DDR befindlichen sowjetischen Militärmaschine im Manöver befindet, ist die Besatzungsmacht hochgradig einsatzbereit. In den Morgenstun-
den des 17. Juni löst das sowjetische Ober-
kommando in allen Garnisonen und bei den Truppen im Manövergelände erhöhte Gefechts-
bereitschaft aus. Parallel dazu wird im Umland von Berlin auch die Kasernierte Volkspolizei (KVP) in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Einsatzkommandos der KVP aus Potsdam und anderen Standorten werden zur Verstärkung der Polizeitruppen nach Berlin abkommandiert. Etwa gegen 5.00 Uhr herrscht auch bei der KVP die höchste Alarmstufe. Die ganze Nacht durch bis in den Morgen berichtet RIAS Berlin über die Protestaktion des Vortages. Ort und Zeitpunkt der für den Morgen in Ostberlin geplanten Demonstration werden mehrfach bekanntgegeben. Der West-Berliner DGB-Vorsitzende Ernst Scharnowski unterstützt in einem Aufruf an die "Ost-Berliner Kolleginnen und Kollegen", der am Morgen ab 5.36 Uhr insgesamt viermal über den RIAS verbreitet wird, die Forderungen der Bauarbeiter nach Aufhebung der Normerhöhungen. Ein Aufruf zum Generalstreik ist ihm verboten worden. Er könne den Menschen "in der Ostzone und in Ost-Berlin" keine Anweisungen, nur "gute Ratschläge" geben, heißt es in seiner Erklärung. Scharnowski fordert die Ost-Berliner Bevölkerung auf, die Bauarbeiter nicht im Stich zu lassen: "Tretet darum der Bewe-
gung der Ost-Berliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei, und sucht Eure Strausberger Plätze überall auf." Im Sendegebiet des RIAS wird die Botschaft hunderttausendfach vernommen, weitererzählt und diskutiert. Die Westberliner Zeitungen berichten ausführlich über den Vortag: "Ostberlin in Aufruhr - Demonstrationen bis in die Nacht -

Tausendfacher Ruf: Freie Wahlen!", lautet etwa die Schlagzeile des "Telegraf". Pendler, Reisende und das Fernsprechnetz transportieren die Informationen nach draußen in die DDR. Im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" erscheint der Beschluss des Politbüros, dass die obligatorischen Normerhöhungen falsch waren und zurückgenommen werden. Allerdings wird die Schuld für die Ereignisse des Vortages nicht der eigenen Politik, sondern Westberlin zugewiesen.
Doch auf den Straßen geht es schon nicht mehr allein um die Normerhöhungen. Seit 7.00 Uhr laufen die Standleitungen und Telefonver-
bindungen in den Berliner Zentralen der SED, der Staatssicherheit, der Polizei und bei der sowjetischen Besatzungsmacht in Karlshorst heiß: immer mehr Meldungen nicht nur aus Berlin selbst, sondern aus dem ganzen Land gehen ein über Arbeitsniederlegungen, Streiks und sich formierende Demonstrationszüge.

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Bauernaufstand

Schnell kristallisieren sich in den nächsten Stunden Schwerpunkte heraus: Berlin, Bitterfeld, Halle, Gera, Jena, Leipzig, Magdeburg, Brandenburg und Görlitz.
Der RIAS berichtet ab 7.00 Uhr halbstündlich über die anlaufenden Demonstrationen in Berlin; aus den DDR-Bezirken dagegen gibt es kaum Informationen. Reporter des RIAS stehen an der Berliner Sektorengrenze, wagen sich aber nur selten einige Meter in den Ostsektor vor.
Weder in Ostberlin noch in den Bezirken sind die Polizei- und Sicherheitskräfte in der Lage, die häufig unüberschaubare Anzahl von Demonstrationszügen aufzuhalten, geschweige denn aufzulösen. Nach kurzer Zeit ist lediglich nur noch eine Sicherung der wichtigen Objekte und zentralen Gebäude möglich; bald sind die deutschen Polizei- und Sicherheitskräfte - zudem mangelhaft ausgerüstet - auch damit hoffnungslos überfordert. Und die sowjetischen Truppen halten sich zunächst zurück.
Meist bis gegen Mittag gelingt es deshalb den Demonstranten in einer Reihe von Städten, Haftanstalten, Polizeidienststellen, Einrichtun-
gen der Staatssicherheit, Gebäude der Stadtverwaltungen sowie der SED und Massenorganisationen zu erstürmen. Oftmals reicht aber auch eine Belagerung aus, um die Erfüllung von Forderungen oder Zugeständnis-
sen zu erreichen. Insgesamt werden schätzungsweise 1.400 Häftlinge befreit. Die deutschen Polizei- und Sicherheitskräfte sind vielerorts in der Defensive, müssen sich zurückziehen.
Schließlich erfolgt, zeitlich leicht versetzt, der massive Einsatz sowjetischer Truppen und neu herangeführter deutscher Polizeikräfte. Während in Berlin schon gegen 10.00 Uhr die Panzer langsam in Richtung Stadtzentrum rollen, greifen in den Bezirken die sowjeti-
schen Besatzungstruppen erst mittags bzw. im Laufe des Nachmittags ein. Insgesamt werden 16 Divisionen gegen die Aufständischen mobilisiert, davon allein drei Divisionen mit 600 Panzern in Berlin. Am Abend des 17. Juni sind schätzungsweise 20.000 sowjetische Soldaten und 15.000 Angehörige der KVP im Osten Berlins im Einsatz.
Ulbricht und andere führende SED-Genossen halten sich unter dem Schutz der Sowjets in Karlshorst auf. Über Standleitungen werden sie auf dem Laufenden gehalten. Mehrere Quellen berichten, dass Ulbricht die Macht als schon verloren betrachtet. Doch die sowjetische Besatzungsmacht verhängt am Nachmittag des

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17. Juni über 167 der 217 Land- und Stadtkrei-
se den Ausnahmezustand. In Berlin tritt der Ausnahmezustand um 13.00 Uhr in Kraft. Es gilt ab diesem Zeitpunkt das Kriegsrecht. Damit übernimmt die Sowjetunion für die Zeit des Ausnahmezustandes wieder die oberste Regierungsgewalt. Nur das massive Eingreifen sowjetischer Truppen rettet letztlich die SED-Herrschaft. Im DDR-Rundfunk wird um 14.00 Uhr eine Erklärung von Ministerpräsident Otto Grotewohl verlesen. Darin wird ausdrücklich noch einmal die Rücknahme der Normer-
höhungen erklärt. Der Aufstand jedoch sei "das Werk von Provokateuren und faschisti-
schen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen". Alle "Arbeiter und ehrlichen Bürger" werden aufgefordert mitzuhelfen, "die Provokateure zu ergreifen und den Staatsor-
ganen zu übergeben".
Mitunter dauert es Stunden, bis die Militärs die Situation unter ihre Kontrolle gebracht haben. In Ostberlin versucht man zudem, die Sekto-
rengrenze nach Westberlin weitgehend abzu-
riegeln. In den DDR-Bezirken besetzen die sowjetischen Truppen alle wichtigen militäri-
schen Knotenpunkte und strategischen Positionen und bauen diese zum Teil zu Stellungen aus. Fast stündlich berichten die sowjetischen Verantwortlichen in der DDR, der sowjetische Hochkommissar Wladimir Semjonow sowie Andrej Gretschko, die aktuel-
le Lage nach Moskau.
Trotz des Ausnahmezustandes und der sowje-
tischen Militärpräsenz in Ostberlin und in den Bezirken flammen während des Nachmittags und auch noch am Abend immer wieder Unruhen auf. Es gibt weiterhin Proteste, Auseinandersetzungen und Ausschreitungen. In Berlin brennt gegen 17.00 Uhr das Columbus-Haus am Potsdamer Platz; in Halle versammeln sich um 18.00 Uhr schätzungs-
weise noch einmal 60.000 Menschen zu einer Kundgebung.
Um 12.30 Uhr hat die Bundesregierung in Bonn auf einer eiligst einberufenen Sondersitzung beschlossen, wegen der Unruhen in Ost-Berlin laufend Verbindung mit der Alliierten Hohen Kommission zu halten. Am Nachmittag erhält Bundeskanzler Konrad Adenauer eine knappe Information über die Ereignisse. Bonn ist besorgt, dass eine für den Abend in Westberlin anberaumte Solidaritätskundgebung zur Eskalation führen könnte. Um 14.30 Uhr wiederholt Adenauer in einer Regierungs-
erklärung vor dem Bundestag den Appell von Jakob Kaiser vom Vortag und beschwört die Deutschen im Osten, sich nicht zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen.
Ein abendlicher Bericht aus Berlin an das Auswärtige Amt (Stand 18.00 Uhr) informiert über Besorgnisse der alliierten Stadtkomman-
danten in Westberlin, dass die Westsektoren in die Ereignisse hineingezogen werden könnten.
Schon am Vormittag sind die alliierten Stadt-
kommandanten in West-Berlin zu einer Sitzung zusammengekommen. Vergeblich haben sie versucht, eine Verlegung des dicht an der Sektorengrenze gelegenen Veranstaltungs-
ortes für die Westberliner Sympathiekund-
gebung zu erreichen. Sie warnen den amtierenden Bürgermeister Walter Conrad und Polizeipräsidenten Johannes Stumm vor

"ernsthaften Konsequenzen", falls sich Westberliner an den Unruhen im Ostteil der Stadt beteiligen sollten. Am Abend weisen sie in einer Presseerklärung die Unterstellung, alliierte oder westberliner Stellen hätten die Demonstrationen herbeigeführt, scharf zurück.
Die auf dem Kreuzberger Oranienplatz in Westberlin um 18.00 Uhr von der SPD anberaumte Solidaritäts- und Sympathiekund-
gebung, zu der etwa 35.000 Menschen zusam-
menkommen, verläuft schließlich ohne Zwischenfälle.
Zwischen 21.00 und 5.00 Uhr wird DDR-weit eine Ausgangssperre verhängt. In den Abendstunden kann der Befehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland schließlich nach Moskau melden, dass im Land weitgehend Ruhe herrsche und die Lage unter Kontrolle sei. Nur wenige Menschen seien inhaftiert worden, weil sie die Ausgangssperre nicht beachteten; der RIAS habe die Aufständi-
schen dazu aufgerufen, den Anweisungen der sowjetischen Militärs Folge zu leisten.
Am Abend erst geht der Westberliner Regierende Bürgermeister Ernst Reuter, der sich zum Europäischen Städtetag in Wien aufhält, in einer Rede auf die Lage in Berlin ein: "Niemand kann auf die Dauer wagen, angesichts der ganzen Welt ein solches System einer verfluchten Tyrannei aufrecht zu erhalten. Wir haben gestern und heute in Berlin gesehen nach all den Nachrichten, die zu uns gekommen sind, und Sie werden, meine lieben Freunde mir verzeihen und verstehen, wenn ich sage, manchmal sind meine Gedanken mehr in Berlin als hier, - wir haben gespürt, dass das Volk von Berlin, ungebrochen auch in Ostberlin, aufgestanden ist wie ein Mann und seine Meinung gesagt hat, wo es in Wirklichkeit steht. Wenn das Wort Demokratie überhaupt noch einen Sinn hat, dann sollen doch die Führer der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik, wie sie sich stolz nennen, endlich die Demokratie in ihrem eigenen Lande einführen und dem Volk die Möglichkeit geben, abzustimmen und zu wählen. Ohne die sowjetische Besatzungs-
macht würde ich heute ganz alleine ins Rathaus des Ostsektors von Berlin gehen und würde die Geschäfte als Regierender Bürgermeister von ganz Berlin übernehmen, geschützt von der jubelnden Zustimmung der ganzen Berliner Bevölkerung."
Im Abgeordnetenhaus in Westberlin findet ab 22.36 Uhr in Abwesenheit Reuters eine Sondersitzung statt. Der Präsident des Abgeordnetenhauses, Otto Suhr, gibt bekannt, dass die Zahl der Toten in Berlin auf sieben angestiegen ist, die Zahl der Verletzten auf 66. Die Abgeordneten gedenken der Opfer des Aufstandes.

Wie viele Menschen sich an diesem Tag im ganzen Land an den Demonstrationen und Streiks beteiligen, ist bis heute unklar. Die Zahlenangaben schwanken zwischen 400.000 und 1,5 Millionen Menschen. Darüber hinaus gibt es keine genauen Zahlen über alle Todesopfer. Die Angaben bewegen sich zwischen 50 und 125 Toten.

Weitere Informationen zum Thema finden sie unter: www.17juni53.de