Druckversion
deutschegeschichten.de/zeitraum/themaindex.asp?KategorieID=1007&InhaltID=1617&Seite=1

Deutsche Geschichten


Reichstag
Symbolhaft steht das Haus in der Mitte Berlins für unsere Demokratie. Symbol ist es auch für verfehlte Versuche, Scheitern und neue Hoffnung.

Politik und Architektur

"Reichstage" - so hießen bis zum Jahr 1806 die Versammlungen der Stände des uralten Heiligen römischen Reiches deutscher Nation. Bei der Einführung des Parlamentarismus in der Verfassung des Kaiserreichs von 1871 übernahm man die ehrwürdige Bezeichnung. Bescheidene demokratische Ansätze in der deutschen Verfassung zu verankern, war ein Kompromiss Kaiser Wilhelms I. und seines Reichskanzlers Otto von Bismarck mit den sozialen Kräften der Zeit.

"Gipfel der Geschmacklosigkeit"

Wirkliche Macht hatte das Parlament jedoch kaum. Der
Kaiser konnte den Reichstag nach Belieben einberufen oder auflösen. Trotz - oder gerade wegen - der fast völlig machtlosen Stellung des Reichstags forderten seine Mitglieder ein repräsentatives Gebäude für ihre Tagungen. Bis zur Grundsteinlegung sollten dreizehn Jahre vergehen. Der Architekt Paul Wallot war aus dem entscheidenden Wettbewerb als Sieger hervorgegangen – für einen Entwurf, den Kaiser Wilhelm II. später "den Gipfel der Geschmacklosigkeit" nannte.

Foto
Der Berliner Reichstag
Im Februar 2003

Viel Raum und weite Wege

1894 konnten die Parlamentarier endlich aus einem 23jährigen Provisorium - der umgebauten Königlichen Porzellanmanufaktur - in den Neubau umziehen: Plenarsaal für 397 Abgeordnete, Ausschussräume, Sitzungs- und Arbeitszimmer, eine Bibliothek – alles war geräumiger als früher, aber auch die Wege wurden weiter und das Restaurant ließ manchen Wunsch offen. Erst die Finanznöte des Ersten Weltkriegs steigerten die Bedeutung des Parlaments. Der sogenannte "Burgfrieden", bei dem alle Parteien Kriegskrediten zustimmten und ihre Konflikte während des Krieges nicht mehr öffentlich auszutragen versprachen, verblüffte nicht nur den Kaiser.

"Dem deutschen Volke"

Mehr noch, er gestand dem Parlament unter dem Druck der Umstände deutlich erweiterte Befugnisse zu: So benötigten künftige Kanzler nun das Vertrauen der Abgeordneten. Symbolhaft war folgender Akt: Die Inschrift "Dem Deutschen Volke" wurde 1916 angebracht, nachdem der Kaiser sich jahrelang dagegen gesträubt hatte. Freilich hätte er "Der Deutschen Einigkeit" den Vorzug gegeben. Nach der Abdankung Kaiser Wilhelms II. wurde der Reichstag Mittelpunkt des politischen Geschehens in der neuen Republik. Auch wenn man sie die Weimarer Republik nannte,

weil ihre verfassunggebende Versammlung 1919 dort tagte, wurden die politischen Geschicke – oder besser: Ungeschicke – der folgenden Jahre vom Berliner Reichstag aus gelenkt.

Versailles, Inflation, Krise

Die Jahre bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 waren turbulent. Der jungen Demokratie wuchs ihre Aufgabe über den Kopf, die Lasten des Vertrages von Versailles, die Inflation und die Weltwirtschaftskrise zu bewältigen. Im Reichstag herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Keines der vierzehn Kabinette erlebte das Ende einer Wahlperiode; im Schnitt nach acht Monaten brachen die Koalitionen auseinander.

Opern-Parlament

Mit der Diktatur Hitlers verlor der Reichstag seine Bedeutung. Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 zog das Parlament in die Kroll-Oper. Dort stimmten die Abgeordneten am 23. März dem Ermächtigungsgesetz zu – dem Freibrief für Hitler, das Parlament aufzulösen und alle Parteien außer der NSDAP zu verbieten. Das Ende der Sitzungen im Reichstag war zugleich auch das Ende der fragilen Demokratie in Deutschland. 58 Jahre sollte es dauern, bis wieder eine parlamentarische Sitzung im Reichstag stattfand.

Reichstag
Reichstag
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 

Nach dem Krieg wurde der Reichstag renoviert, war aber nicht mehr Ort großer politischer Veranstaltungen. Die konstituierende Sitzung des ersten gesamtdeutschen Bundestages am 20. Dezember 1990 markierte die Rückkehr des Parlamentarismus in den Reichstag. 1991 beschloss der Bundestag, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen. Der Reichstag wurde das Zentrum des neuen Regierungsbezirks. Seit 1999 tagt nun das Parlament als zentrales Organ der Demokratie wieder im Reichtagsgebäude.

Er sollte der "bedeutendste und dem Range nach hervorragendste Monumentalbau des deutschen Volkes" werden, so beschrieb die Deutsche Bauzeitung die Forderung der Parlamentsabgeordneten Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts nach einem repräsentativen Gebäude. Am 9. Juni 1884 wurde der Grundstein für den Reichstag gelegt. Die Umsetzung erfolgte nach den Plänen von Paul Wallot (1841 - 1912), der den zweiten Wettbewerb der Architekten gewonnen hatte. 39 Jahre tagte das Parlament dann im Reichstag - bis zum Brand am 27. Februar 1933. Zwischen 1961 und 1972 baute man das Gebäude nach Plänen von Paul Baumgarten wieder auf. Nach der deutschen Vereinigung wurde 1992 ein neuer Wettbewerb ausgelobt: Der Ältestenrat entschied sich für den Entwurf von Sir Norman Foster. Dieser ließ vom alten Reichstag nur noch die Außenwände stehen und gab ihm ein neues Innenleben. Entstanden ist ein modernes Parlament in historischem Gewand.)

Wolfgang Thierse im Interview

Am 10. Februar 2003 im Foyer des Berliner Reichstagsgebäudes.
Foto
Wolfgang Thierse
Am 10. Februar 2003 im Foyer des Berliner Reichstagsgebäudes.

Frage: Herr Thierse, das Reichstagsgebäude war immer ein politisches Symbol. Lange Zeit war es auch ein sehr zwiespältiges Symbol. Wie kam es dazu?

Thierse: Das Reichstagsgebäude ist eines der großen Symbole deutscher Geschichte. Widersprüche und Missdeutungen sind da einbezogen. Oft ist das Reichstagsgebäude zum Symbol des Nazireichs erkoren worden. Das war es aber nie. Hitler hat nie an einer Reichstagsdebatte hier im Hause teilgenommen. Das Ermächtigungsgesetz (es gab Hitler im März 1933 diktatorische Vollmachten, d. Red.) wurde in der Krolloper angenommen. Später hat die Rote Armee die rote Fahne auf dem Reichstagsgebäude gehisst, gewissermaßen als symbolische Überwindung des Nazireichs. Doch das Reichstagsgebäude war nicht das Machtzentrum der Nazis, es war Ort des deutschen Parlamentarismus mit all seinen Widersprüchen, Siegen und Niederlagen.

Frage: Heute ist das Reichstagsgebäude sehr populär. Hier kommen Millionen von Menschen hin. Wirkt sich das auch förderlich auf die Popularität der demokratischen Institutionen aus?

Thierse: Ich freue mich darüber, dass das Reichstagsgebäude so populär ist. Es ist die Besucherattraktion in Berlin schlechthin. Ich wünsche mir, dass ein wenig von der Attraktivität des Gebäudes auch auf die Institution namens Bundestag abstrahlt. Es nehmen ja auch viele Menschen an Bundestagsdebatten teil. Das ist, glaube ich, für die Popularität der parlamentarischen Demokratie, für die Sympathie, mit der die Bürger unserer Arbeit begegnen, sehr günstig.

Frage: Noch ein kleiner Blick in die Geschichte: Es gab ja damals, als 1991 die Entscheidung über den Umzug des Bundestages und der Bundesregierung nach Berlin getroffen wurde, ein sehr knappes Ergebnis. Welche Bedeutung hat es, dass der Bundestag ins Reichstagsgebäude einzog?

Thierse: Die Entscheidung zwischen Berlin und Bonn war tatsächlich knapp. Und sehr emotional bewegt. Es hat dann acht Jahre gedauert, bis Parlament und Regierung beginnen konnten, in Berlin zu arbeiten. Die Verlagerung des Schwergewichts der Politik aus dem Westen Deutschlands in den Osten war gut und notwendig, weil hier der schwierigere, problematischere Teil des Landes ist, weil hier noch so viele Aufgaben vor uns stehen und nicht zuletzt auch, weil die wirtschaftlichen Schwergewichte nach wie vor anderswo sind.

Frage: Damals gab es Befürchtungen, mit dem Umzug nach Berlin könnten falsche Zeichen gesetzt werden, ein neues Machtstreben für Berlin wäre der Zweck. Waren solche Befürchtungen angemessen?

Reichstag
Reichstag
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 

Thierse: Das Wort von der "Berliner Republik", das damals umging, hat viele Fehl-Befürchtungen und Fehl-Erwartungen produziert. Wenn es nicht nur eine Ortsbezeichnung ist, sondern auch die Bezeichnung für eine befürchtete oder erhoffte grundsätzliche Veränderung der Politik, dann war es falsch und ist es noch.
Denn die Grundkoordinaten der deutschen Politik haben sich durch den Umzug von Bonn nach Berlin nicht geändert und werden sich auch nicht ändern: Wir bleiben fest integriert in das westliche Bündnis. Mitten in Europa betreiben wir europäische Politik, eine Politik des friedlichen Ausgleichs nach innen und außen. Berlin ist nicht mehr der Ort eines preußischen Imperiums. Die Zeiten sind, zum Glück, lange vorüber.

Namen russischer Soldaten auf einem Mauerstück der alten Reichstags-Ruine.
Foto
Die Zeiten sind vorüber:
Namen russischer Soldaten auf einem Mauerstück der alten Reichstags-Ruine.

Frage: Heute haben wir mit dem Rechtsradikalismus ein ganz anderes Problem, das sehr viel Schaden angerichtet hat und leider immer wieder anrichtet. Was können wir dagegen tun?

Thierse: Der Kampf gegen den neuen Rechtsextremismus ist nicht nur Sache von Polizei und Justiz. Es ist Aufgabe der ganzen Gesellschaft, für die demokratischen Grundwerte zu werben: für Humanität, für Toleranz, für zivile, friedliche Konfliktregelung. Jeder einzelne kann etwas tun, indem er einen ausländerfeindlichen oder antisemitischen Witz nicht widerspruchslos anhört oder indem er nicht tatenlos zusieht, wie ein anderer verprügelt oder beschimpft wird, sondern eingreift und Hilfe holt. Ich sehe es - auch für mich persönlich – als eine wichtige Aufgabe an, mit jungen Leuten zu reden und zu helfen, dass sich Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit gerade unter jungen Leuten nicht ausbreiten.
Das ist aber nicht nur Sache der Politiker, sondern auch Sache der Schule, der Familie, der Eltern, der Medien und vieler anderer Kräfte in der Gesellschaft.

Frage: Ein anderes Thema: Junge Leute in der Politik scheinen eine Minderheit zu sein. Trifft dieser Eindruck zu? Was kann man tun, damit Politik für junge Menschen attraktiver wird?

Thierse: Zunächst muss ich widersprechen: Im Bundestag fehlen nicht junge Abgeordnete, es fehlen alte Abgeordnete. Wir haben nur einen einzigen Abgeordneten über siebzig. Die Prozentzahl der Menschen in Deutschland, die über siebzig sind, nimmt aber ständig zu, so dass die Alten im Bundestag unterrepräsentiert sind, nicht die Jungen. Trotzdem ist es wichtig, dass die Demokratie für den eigenen Nachwuchs sorgt, dass junge Leute in die Aufgabe hineinwachsen, demokratische Politik zu machen. Da hilft nur aufklären, werben, erklären und junge Leute davon überzeugen, dass die Politik viel mit ihren Lebensproblemen und Erwartungen zu tun hat und dass es in der Politik gegen manchen Anschein durchaus menschlich zugeht.

Hans Haacke nannte seine Installation
Foto
Kunst am Bau:
Hans Haacke nannte seine Installation "Der Bevölkerung", und nahm dabei Bezug auf die Inschrift am Westportal.

"In der Kunst gilt Freiheit... Manche der Kunstwerke im Reichstagsgebäude gefallen mir sehr gut, andere finde ich eher belanglos. Es gibt auch ein paar, über die ich mich ein bisschen ärgere. Aber die Geschmäcker sind unterschiedlich. Glücklicherweise ist das so. Kunst ist Freiheit, auch im Urteil." (Wolfgang Thierse im Interview)

Der Reichstagsbrand

"Um 9 Uhr kommt der Führer zum Abendessen... Plötzlich ein Anruf: ´Der Reichstag brennt!´ Ich halte das für eine tolle Phantasiemeldung und weigere mich, dem Führer davon Mitteilung zu machen..." So steht es im Tagebuch des Dr. Joseph Goebbels. Datum der Eintragung: 27. Februar 1933. Was ist los in Deutschland?

Selbstmord der Demokratie

Vier Wochen sind vergangen, seit Hitler die Kanzlerschaft übernommen hat. Auf legale, parlamentarische Weise war das geschehen: Die deutsche Demokratie hatte sich selbst den Todesstoß versetzt. Doch immer noch gibt es politische Parteien mit ihren Kampfverbänden; es gibt Gewerkschaften und Organisationen verschiedenster Couleur. Noch ist der Weg zur "Gleichschaltung", zur Okkupation der totalen Macht nicht geebnet.

Reichstag
Reichstag
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 

Verhaftungslisten im Safe

Mit Hindenburg steht ein zögerlicher Reichspräsident an der Spitze dessen, was von der Weimarer Republik übrig geblieben ist. Wie so oft, wirkt aber auch Hitler seltsam entschlusslos: Ohne seinen Getreuen eine Strategie präsentieren zu können, vertraut der "Führer" scheinbar allein auf sein Glück. Andere haben vorgearbeitet: Im Safe des preußischen Innenministers Herrmann Göring liegen schon die Femelisten. Kommunisten, Sozialdemokraten, Politiker der bürgerlichen Parteien, linke Schriftsteller – längst sind ihre Verhaftungen geplant.

Diese Abbildung zeigt in Wirklichkeit das brennende Modell des Reichstages
Foto
1955 im Trickatelier des DEFA-Studios für Spielfilme
Diese Abbildung zeigt in Wirklichkeit das brennende Modell des Reichstages.

Wie aber soll man dem "alten Herrn" Hindenburg die Zustimmung entwinden, steht hinter dem doch noch die Reichswehr? Wie schlagende Argumente finden, für jenes "Ermächtigungsgesetz", das dann im März durchgepeitscht wird und Hitler alle Vollmachten eines Diktators gibt? Und wie den großen Erfolg erzielen in der letzten Wahl, die Hitler der Rest-Demokratie noch einmal zugestehen musste
Die Lösung lag in der Luft: Ging da nicht ein Gespenst um in Deutschland, die Angst vor einem kommunistischen Putsch? Bis jetzt waren die roten Revolutionäre ja erstaunlich ruhig geblieben. Bereiteten sie still und heimlich etwas vor? Es wäre Hitler zupass gekommen.
Wie es ihm zupass kam, was dann passierte, lesen wir in Goebbels´ Tagebuch vom 27. Februar: "Lichterloh schlagen die Flammen aus der Kuppel. Brandstiftung! ... Über dicke Feuerwehr-Schläuche gelangen wir in die große Wandelhalle. Auf dem Wege dahin kommt uns Göring entgegen. Es besteht kein Zweifel, dass die Kommune hier einen letzten Versuch unternimmt... Nun aber heißt es handeln. Sofort verbietet Göring die gesamte kommunistische und sozialdemokratische Presse. Die kommunistischen Funktionäre werden in der Nacht dingfest gemacht... Nun können wir aufs Ganze gehen."
Und sie gingen aufs Ganze, Schlag auf Schlag! Heute ist klar, wie übrigens auch schon damals, wer die Nutznießer des Reichstagsbrandes waren. Wer aber waren die Brandstifter?

Lubbe war nicht allein

Am Tatort fassen Polizisten den holländischen Wandergesell Marinus van der Lubbe. Mit Kohlenanzünder hat er die Vorhänge des Plenarsaals in Brand gesteckt. Lubbe ist Anhänger einer kommunistischen Splittergruppe, intelligent, arbeitslos, psychisch instabil. Alle Sachverständigen – keine Nazis – sind sich einig: Das Feuer kann Lubbe allein nicht gelegt haben!

Der Brandstifter

1909: 13. Januar: Marinus van der Lubbe wird im holländischen Leiden geboren. Für längere Zeit lebt er in einem Heim für verwahrloste Kinder.
1924: Beginn einer Maurerlehre.
1925: Van der Lubbe schließt sich dem kommunistischen Jugendverband an. Bei einem Arbeitsunfall werden seine Augen verletzt.
1926-1928: Kontakte zur Kommunistischen Partei Hollands (KPH) und Gründung eines Pionierverbands.
1929: Van der Lubbe schreibt Flugblätter und Streikaufrufe und tritt als Redner auf.
1931: April: Er will in die Sowjetunion wandern, kommt aber nur bis Berlin. Nach seinem Austritt aus der KPH engagiert er sich im niederländischen "Spartacus", wo er sich die Ideen des Anarchismus aneignet.
1933: Januar: Van der Lubbe erkrankt an Augentuberkulose. Mitte Februar: Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland wandert er nach Berlin. 25. Februar: Er versucht drei Brandstiftungen an öffentlichen Gebäuden. 27. Februar: Um 21.27 Uhr wird er im brennenden Reichstag verhaftet. 21. September: Beginn des Prozesses. 23. Dezember: Er wird vom Reichsgericht zum Tode verurteilt.
1934: 10. Januar: Marinus van der Lubbe wird in Leipzig hingerichtet.

Freispruch für die Funktionäre

Im September 1933, die große Welle der Verhaftungen ist längst vorbei, beginnt der Prozess vor dem Reichsgericht. Das agiert mit einer, wenn auch stark eingeschränkten Unabhängigkeit: Es spricht Lubbes Mitangeklagte – den Vorsitzenden der KPD- Fraktion Torgler und die drei bulgarischen Komintern-Funktionäre Dimitroff, Popov und Toneff – aus Mangel an Beweisen frei. Der Blamierte ist Innenminister Göring. Lubbe verurteilt man zum Tode und richtet ihn bald darauf hin.
Schon kurz nach dem Brand veröffentlicht ein Komitee unter Mitwirkung des kommunistischen Agitators Willi Münzenberg ein "Braunbuch": "Den Plan zur Brandstiftung ersann der fanatische Verfechter der Lüge und Provokation: Dr. Goebbels. Die Leitung der Aktion hatte ein Morphinist: Hauptmann Göring... Das Werkzeug war ein kleiner, halbblinder Lustknabe: Marinus van der Lubbe."
So sind der Weltöffentlichkeit zwei Lesarten präsentiert:

Reichstag
Reichstag
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 

kommunistischer Putschversuch hier, nationalsozialistische Verschwörung dort. In einem Punkt allerdings stimmen beide Deutungen überein. Und dieser eine Punkt wird über Jahrzehnte hinweg so gut wie niemals angezweifelt: Lubbe war kein Alleintäter!

Im Prozess versank er weitgehend in Apathie.
Foto
Marinus van der Lubbe (1909 - 1934)
Im Prozess versank er weitgehend in Apathie.

Nach dem Krieg mühten sich Historiker in Ost und West, die These von der Nazi-Täterschaft zu zementieren. Gutachten wurden erstellt, Zeitzeugen befragt, Dokumente studiert. Doch mit dem Beginn der sechziger Jahre gab es den großen Paukenschlag: Der Amateur- Historiker Fritz Tobias schien nachweisen zu können, dass Lubbe allein - ohne Mittäter, Auftraggeber oder Mitwisser - die spektakuläre Aktion unternommen hatte. Tobias legte das zunächst 1959/60 in einer Spiegel-Serie dar, und 1962 in einem dickleibigen Buch. Seine Auffassung setzte sich nicht kampflos aber stetig durch. Und ab den siebziger Jahren wussten wir es genau: Lubbe war doch allein!

Mehr als Kriminalgeschichte

Könnten wir es damit nicht gut sein lassen? Die Geschichte des Nazireichs ist geschrieben; bekannt ist, was vorher und nachher geschah. Ein simpler Kriminalfall schien aufgeklärt. Aber der Reichstagsbrand war immer mehr als nur ein Stück Kriminalgeschichte: Seine Rekonstruktion legt in einem sehr weiten Sinn unseren Blick fest auf das Wesen nationalsozialistischer Herrschaft. Wie das?

Organisation und Chaos

Tief verankert im Geschichtsbild war die Auffassung vom Nationalsozialismus als einer rational organisierten, mit klaren Befehlssträngen funktionierenden planvollen Macht. Nachdem - ebenfalls in den siebziger Jahren - die genauere Untersuchung der nationalsozialistischen Institutionen einsetzte, erwies sich diese Vorstellung als nicht länger haltbar: Konkurrierende Instanzen, Unordnung, Kompetenzwirrwarr schienen nun kennzeichnend für den Hitlerstaat; sei es im Bereich der Wirtschaft, des Militärs oder der Ideologie.
Vom "Chaos im Gleichschritt" war die Rede. Zusammengehalten worden sei das Ganze durch die "Intuition", die "Künstlernatur" des "Führers", der seine Paladine nach Belieben gegeneinander ausspielte. Joachim Fest hat hier mit seiner Biografie des Albert Speer viel beigetragen.

Nichts also mit planvoll, stattdessen das Agieren im Chaos, das Ausnutzen günstiger Gelegenheiten als Herrschaftstechnik! Immer

habe Hitler die Steilvorlagen seiner Gegner, manchmal auch – wie beim Reichstagsbrand - die des Zufalls genutzt. Sicher ist, dass jedes Gericht Verbrechen aus Gelegenheit anders werten würde, als die gezielte, langfristig durchdachte Tat.

Eine passende These

Folglich steht auch die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen im System, bis hin zur personengebundenen Kriegsschuld, jeweils anders. Zur eher "distanzierten" Geschichtsschreibung passte die These von der Zufallstäterschaft des Marinus van der Lubbe. Wirklich, wir sollten es damit bewenden lassen. Sollten wir?

Wie Geschichte gemacht wird

Ende 1999 erschien in der "Historischen Zeitschrift" ein Artikel, der die Ergebnisse des Fritz Tobias in neues Licht rückt. Dessen Autoren Alexander Bahar und Wilfried Kugel berufen sich auf Dokumente, die erst seit der Wende 1989/90 frei benutzbar sind.
Dazu gehören auch für Tobias und andere vor vierzig Jahren noch unzugängliche Akten des Reichstagsbrand-Prozesses von 1933. Der Vorwurf ist harsch: Um seine Alleintäterschafts-These zu stützen, habe Tobias Quellentexte manipuliert. Spätestens als im Jahr 2000 das Buch von Bahar und Kugel unter dem Titel "Der Reichstagsbrand – Wie Geschichte gemacht wird" erschien, brach ein Sturm los. War der Brand des Reichstags also doch geplant und von den Nazis in Szene gesetzt?
Der Kriminalfall Reichstagsbrand ist wieder offen. Und zur Debatte steht damit auch der bequemer gewordene Blick auf das Dritte Reich. So kann die Diskussion um persönliche Verantwortung, um die planvoll agierenden politischen Täter – wo und in welcher Zeit immer – eine schärfere Tonart bekommen.
Ist es denn so ein Wunder? Wenn Kriege, überall auf der Welt, wieder führbar sind, uns näher rücken, dann stellt sich auch die Frage nach der Schuld konkreter Personen wieder in grellerem Licht.

Im Prozess um den Reichstagsbrand ist er gescheitert
Foto
Herrmann Göring (1893 - 1946)
Im Prozess um den Reichstagsbrand ist er gescheitert

Die distanzierte, abgeklärte Sicht auf vergangene Ereignisse mag da manchem nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Was geht uns heute ein Kriminalfall aus den dreißiger Jahren an? Sehr viel, denn Geschichte ist der wechselvolle Entwurf der Vergangenheit – aus den Bedürfnissen und Interessen der Gegenwart.

Reichstag
Reichstag
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 

Galerie: Kunst im Reichstag

Eine Ikonenwand aus 115 Einzelbildern des russischen Künstlers Grisha Bruskin. Mit seinem Kunstwerk ironisiert Bruskin die Skulptur-Manie der Sowjetunion.
Foto
Galerie
Eine Ikonenwand aus 115 Einzelbildern des russischen Künstlers Grisha Bruskin. Mit seinem Kunstwerk ironisiert Bruskin die Skulptur-Manie der Sowjetunion.

Foto
Galerie
"Tisch mit Aggregat" von Joseph Beuys. Das Werk soll die Spannung symbolisieren, aus der sich das Leben speist und die Zivilisation erst möglich wurde.

Humorvolle Leuchtkästen: Sigmar Polke kombinierte heiter-ironische Bildzitate aus Politik und Geschichte raffiniert mit verborgenen Linsensystemen.
Foto
Galerie
Humorvolle Leuchtkästen: Sigmar Polke kombinierte heiter-ironische Bildzitate aus Politik und Geschichte raffiniert mit verborgenen Linsensystemen.



Foto
Galerie
"Archiv der Deutschen Abgeordneten" des Franzosen Christian Boltanski: Auf rostenden Metallkästen stehen die Namen aller Parlamentarier seit 1919.

Katharina Sieverdings Sonnenkorona ist ein Denkmal für die verfolgten Abgeordneten linker und bürgerlicher Parteien am Beginn der Nazidiktatur.
Foto
Galerie
Katharina Sieverdings Sonnenkorona ist ein Denkmal für die verfolgten Abgeordneten linker und bürgerlicher Parteien am Beginn der Nazidiktatur.

Dieser Andachstsraum wurde von Günther Uecker gestaltet. Durch die sehr einfache Ausstattung und die suggestiven Bilder soll er zu Meditation und Einkehr anregen.
Foto
Galerie
Dieser Andachtsraum wurde von Günther Uecker gestaltet. Durch die sehr einfache Ausstattung und die suggestiven Bilder soll er zu Meditation und Einkehr anregen.