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Deutsche Geschichten


Antisemitismus
Der Begriff Antisemitismus bedeutet in der politischen Praxis "Judenfeindlichkeit" und wurde 1879 von Wilhelm Marr geprägt.

Wannseekonferenz -»Endlösung der Judenfrage«

Hitler hatte schon in seinem Bekenntnisbuch »Mein Kampf« seine Absicht kundgetan, im Falle einer Machtübernahme eines Tages das Judentum aus dem deutschen Volksleben »auszumerzen«. Nach der Machtergreifung der National-
sozialisten hatte er wiederholt diesen Plan als unverrückbares Ziel bezeichnet. In Deutschland und nach dem Anschluss auch in Österreich war schon vor dem Krieg die Zahl der jüdi-
schen Bürger infolge der ständigen Diffamierungen und Demütigungen nach Erlass der Nürnberger Gesetze, schließ-
lich nach dem Judenpogrom des 9. November 1938, der so genannten Reichskristallnacht, durch Auswanderung, die sich zur Massenflucht ausweitete, um mehr als die Hälfte vermin-
dert worden. Mit Kriegsbeginn steigerten sich die Drangsalie-
rungen jüdischer Menschen zu brutalen Terrormaßnahmen, besonders in den besetzten Ostgebieten, wo Himmlers berüchtigte Einsatzgruppen die jüdische Bevölkerung in Ghettos zusammentrieben und durch Massenexekutionen dezimierten. Die letzte und höchste Steigerung der unmenschlichen Barbarisierung begann mit dem Russland-feldzug, den Hitler zum »Weltanschauungskrieg« gegen das »jüdischbolschewistische Untermenschentum« erklärt hatte. Jetzt wurde auch der ursprüngliche Plan, die europäischen Juden

geschlossen nach Madagaskar umzusiedeln, zugunsten der Deportation in den Ostraum aufgegeben. Im Auftrage Hitlers wies Göring am 31. Juli 1941 den SS-Gruppenführer und Chef des Reichs-
sicherheitshauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich, die rechte Hand Himmlers, an, eine Gesamtplanung für die »Endlösung der Judenfrage« zu erstellen. Heydrich erläuterte seinen Plan am 20. Januar 1942 den Vertretern derjenigen Reichsministerien und obersten Parteidienst-
stellen, die in irgendeiner Form mit dieser Aktion befasst waren. Das Protokoll dieser Wannseekonferenz entstammt den Aufzeichnungen des SS-SturmbannführersEichmann. Heydrich entwickelte in bürokratischer Tarnsprache sein Vorhaben. Die im Herrschaftsbereich der SS liegenden europäischen Länder sollten systematisch »gesäubert« werden, die Juden »in geeigneter Weise im Osten zum Einsatz kommen«, wobei schon einkalkuliert wurde, dass dabei »zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. « Der übrig bleibende Teil »wird entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.« Mit dieser grausamnüchternen Amtssprache war eindeutig die Ausrottung, auch die der Kinder, vorprogrammiert. Schwerbeschädigte und Weltkriegsteilnehmer mit

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Zeitzeugenbericht:
9. November 1938

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Reichspogromnacht

Literatur
Christopher R. Browning-
"Der Weg zur "Endlösung"

Gab Hitler den Befehl? Und wenn nicht er, wer hat dann das Morden angeordnet und organisiert? In der kurzen Zeitspanne zwischen Mitte März 1942 und Februar 1943 starb fast die Hälfte aller Opfer des Holocaust. Die Analyse des renommierten Holocaust-Forschers Christopher R. Browning benennt die Verantwortlichen und macht ihre Motive und Mentalität nachvollziehbar. "Brownings Beiträge gehören heute zum Standardrepertoire aller Historiker, die sich mit den NS-Verbrechen beschäftigen. Sie sind wegweisend in der Täterforschung ..." Dieter Pohl in "Die Zeit", 27.8.1998

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Auszeichnungen sollten von diesen Deportationen ausgenommen und in Altersghettos eingewiesen werden. Diese scheinheilige Maßnahme sollte nach Heydrichs Worten »mit einem Schlage die vielen Interventionen« ausschalten. Eichmann erhielt den Auftrag, die bürokratisch-technischen Vorarbeiten zu leisten. Niemand von den anwesenden Behördenvertretern erhob Widerspruch. Auf der Wannseekonferenz waren damit die organisatorisch-technischen Voraussetzungen für den größten Völkermord der Weltgeschichte geschaffen worden.

Massenvernichtung

Bereits in den ersten Wochen nach der Machtübernahme waren von der SA und der SS politische Gegner in so genannte »wilde« Konzentrationslager eingewiesen worden. Eines der ersten war das von dem Münchener SS-Führer Heinrich Himmler eingerichtete KZ Dachau, im Bereich der Berliner SA entstand das Lager Oranienburg. Kommunistische Funktionäre und Abgeordnete, auch Sozialdemokraten und Publizisten waren die ersten Opfer, die »in Schutzhaft« genommen wurden, wie es amtlich hieß.

Konzentrationslager waren keine Erfindung der Deutschen, aber sie wurden von den Nationalsozialisten zu einem mit höchster Perfektion funktionierenden System zur Ausschaltung der Regimegegner und aller sonstwie unliebsamen Personen entwickelt - bis zur Vernichtung ganzer Völker.

Krematorium
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Krematorium
Ruine eines der Krematorien von Birkenau: letzte Station für die Opfer der Verwertung. Vier Krematorien waren auf dem Höhepunkt der Vernichtung in Betrieb.

Nach der Liquidierung der SA-Führerschaft im angeblichen »Röhmputsch« wurden die Konzentrationslager geschlossen, bald aber wieder unter der Regie der SS neu eingerichtet und ausgebaut. Jetzt wurden neben den politischen Gegnern auch andere Personengruppen eingewiesen: Angehörige religiöser Sekten, Ordensgeistliche, Pfarrer beider Konfessionen, Juden, Polen, Sinti und Roma, Homosexuelle sowie »Arbeitsscheue«, und »Gewohnheitsverbrecher«.
Mit Beginn des 2. Weltkrieges wurde das KZ-System erheblich ausgebaut, zahlreiche neue Lager entstanden in den eroberten polnischen Gebieten. Unter ihnen ist das im Juni 1940 eingerichtete KZ Auschwitz in seiner räumlichen Ausdehnung wie in seiner Vernichtungskapazität das größte Todeslager der Weltgeschichte geworden.

Gaskammer Ausschwitz
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Gaskammer
Überreste der Gaskammern von Auschwitz: Zyklon B war das Mittel der Vernichtung.

Haupttor Auschwitz 1933-1945
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Haupttor Auschwitz
Das Haupttor von Auschwitz, das etwa zwei Millionen Opfer passierten.

Die Zahl der KZ wuchs während des Krieges auf 22 an mit 165 Außenstellen (= Arbeitslagern). In den Lagern waren die Häftlinge hilflos der brutalen Willkür der Wachmannschaften ausgesetzt. Durch die rücksichtslose Ausbeutung der Häftlinge in den den Lagern zugeordneten Wirtschaftsbetrieben und Rüstungswerken mit elfstündiger Arbeitszeit bei völlig unzureichender Ernährung, unter fortwährenden Schikanen, stundenlangen Ordnungsappellen und durch Seuchen war die Sterblichkeit unter den Lagerinsassen außerordentlich hoch.

Zwangsarbeit
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Zwangsarbeit
Im KZ Ravensbrück: Häftlingsfrauen bei der Zwangsarbeit. (Bild: DHM)

Seit Beginn des Krieges bestand die Mehrzahl der Inhaftierten aus Angehörigen der unterworfenen Völker, der Anteil der deutschen Häftlinge betrug bei Kriegsende nur noch 5-10 %. Die Gesamtzahl der KZ-Insassen stieg jetzt sprunghaft an, bis März 1942 waren es bereits 100000, bis Januar 1945 sogar über 700 000, nicht mitgerechnet die unregistriert in den KZ Vergasten. In verstärktem Maße wurden seit Beginn des Russlandfeldzuges in Konzentrationslagern Massenerschießungen durchgeführt. Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 wurde die Vernichtung des europäischen Judentums organisatorisch festgelegt.

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Videobeitrag
Zeitzeugenbericht: KZ Buchenwald

Die dort beschlossenen Transporte der europäischen Juden in den Osten gingen ausschließlich in die Vernichtungslager Belzec, Chelmno, Lublin-Majdanek, Sobibor, Treblinka und Auschwitz-Birkenau.

Schlaglicht
Auschwitz
Im Juni 1940 wurde Auschwitz, auf Anordnung Himmlers, zum größten Konzentrationslager des SS-Staates ausgebaut.

Tausende von Häftlingen sind durch die an ihnen vorgenommenen medizinischen und

Antisemitismus
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nahrungsmittelchemischen Experimente ums Leben gekommen. Als sich die Front den osteuropäischen KZ näherte, befahl Himmler den Abtransport der Häftlinge in Richtung Westen, ließ die Vergasungen einstellen und ordnete zudem an, die bei früheren Massenerschießungen verscharrten Leichen auszugraben und zu verbrennen.

Biographie
Heinrich Himmler

Auf den Rücktransporten sind in den letzten Monaten noch einmal unzählige Häftlinge durch völlige Erschöpfung und um sich greifende Seuchen gestorben. Man schätzt die Zahl der von den Nationalsozialisten insgesamt in den KZ Inhaftierten auf 7,2 Millionen, von denen nur etwa 500 000 überlebten.

Literatur
Paul Spiegel-
"Wieder zu Hause?"

Paul Spiegels Erinnerungen. Ein jüdisches Leben in Deutschland, das ebenso widersprüchlich wie abenteuerlich, einzigartig wie exemplarisch ist.

Antisemitismus

Als die Überlebenden des Holocaust aus den Lagern oder den Verstecken kamen, glaubten viele, dass das Ausmaß der Verbrechen jedem Antisemitismus den Boden entziehen und sich, wie Heinz Galinski, bis 1992 Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, es formulierte, „eine Welt auftun (würde), in der Menschenliebe und Verständnis unter den Völkern herrschen werde“. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt, wenngleich heute in den europäischen Ländern und in den USA im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Antisemitismus in der Bevölkerung deutlich abgenommen hat und es auch keine Diskriminierungen von staatlicher Seite mehr gibt. Dennoch sehen sich Juden in vielen Ländern Vorurteilen und Übergriffen ausgesetzt. In Deutschland haben antisemitische Straftaten in den neunziger Jahren im Vergleich zu den Jahrzehnten davor erheblich zugenommen. Woher kommen die Vorurteile gegen Juden? Weshalb halten sich antijüdische Stereotype so hartnäckig, obwohl man ihnen nun jahrzehntelang in der Schule und der Öffentlichkeit entgegengetreten ist und in vielen europäischen Ländern nur noch wenige Juden leben? Welche Rolle spielt dabei, dass negative Äußerungen über Juden in der Öffentlichkeit tabuisiert sind, dass das Thema „Juden“ von vielen wegen des Holocaust als belastet und heikel empfunden und häufig gemieden wird? Gerade in Deutschland, wo Schuld- und Schamgefühle begreiflicherweise einem normalen, gelassenen Verhältnis zwischen Deutschen und Juden entgegenstehen, eignen sich antijüdische Bemerkungen, Witze oder gar Übergriffe besonders treffsicher als Mittel der Tabuverletzung und Provokation. Insofern gibt es in Deutschland und Österreich auch einen spezifischen „Antisemitismus wegen Auschwitz“, der sich gegen die Juden wendet, weil sie als diejenigen gesehen werden, die die

Deutschen permanent schmerzlich an die NS-Verbrechen erinnern. Dieser „sekundäre Antisemitismus“ greift auf alte antijüdische Vorurteile und Stereotypen zurück und aktualisiert sie. Deshalb muss man, um den heutigen Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen zu verstehen, auf die Geschichte der Judenfeindschaft zurückkommen, in der ein negatives Bild des Juden geprägt wurde, das ein zäher Bestandteil unserer kulturellen Überlieferung geworden ist. Hier liegt die große Gefahr bei der Weitergabe von Stereotypen, denn auch wenn man sie nicht teilt, kennt man die negativen Urteile über die Juden.
Die Judenfeindschaft besitzt mehrere historische Schichten, wobei die älteren Vorurteilsschichten in der nächsten Phase nicht „vergessen“, sondern nur von neuen überlagert wurden.

Christlicher Antijudaismus

Die erste Schicht ist die religiös motivierte Ablehnung der Juden durch die Christen, die als abgespaltene jüdische Sekte seit dem ersten Jahrhundert n. Chr. in Konkurrenz zum Judentum standen, das in seiner Mehrheit die christliche Lehre ablehnte. Aus dieser Situation von Nachfolge und Konkurrenz entstand eine bereits im Neuen Testament spürbare antijüdische Tradition, die die Juden als „Volk des alten Bundes“ aus dem neuen Gottesbund ausschloss. Im Zentrum der judenfeindlichen Vorwürfe stand die Überbetonung des Anteils der Juden an der Leidensgeschichte Jesu in den Evangelien (Matthäus 27,25: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“; Markus 15,6–15; Lukas 23,13–25), die im Vorwurf des Christusmordes gipfelte: „Welche auch den Herrn Jesum getötet haben, und ihre eigenen Propheten, und haben uns verfolgt“ (1 Thessalonicher 2,15). Weiter findet sich eine negative Zeichnung der jüdischen Pharisäer und Schriftgelehrten als Heuchler (Matthäus 23,13–29) und Verfechter einer nur äußerlichen Frömmigkeit (Lukas 16,15). Im Johannes-Evangelium werden die Juden schlechthin zu Feinden der Christen erklärt und beschuldigt, sie hätten „den Teufel zum Vater“ (8,23 und 8,40–44). Damit haben wir zentrale Bestandteile des religiösen Vorurteils beisammen: Verwerfung der Juden durch Gott, Vorwurf des Christusmordes und der Christenfeindlichkeit. Negative Stereotype aus dem neuen Testament reichen bis in den heutigen Sprachgebrauch hinein: Wir nennen einen Heuchler immer noch „Pharisäer“. Judas ist bis heute die Symbolfigur des Verräters, und Juden wurden in der Geschichte häufig des Verrats an ihren „Gastvölkern“ bezichtigt.
Der Abschluss der Christianisierung Europas, die innerkirchlichen Reformbewegungen, insbesondere die Missionsbestrebungen der Bettelorden und die Wendung gegen abweichende christliche „Irrlehren“ (so genannte Ketzer) und Feinde des Christentums (Kreuzzüge), verbreiteten die Judenfeindschaft über den Kreis der Theologen hinaus unter den Laien, sodass Vorurteile gegen Juden zum festen Bestandteil der erstarkenden Volksfrömmigkeit wurden.

Im 13. Jahrhundert gewannen mit der Verkündigung der Transsubstantiationslehre, die annahm, dass sich beim Abendmahl Brot und Wein real in den Leib und das Blut Christi verwandelten, die geweihte Hostie und das Blut zentrale religiöse Bedeutung. Christen fürchteten nun, Juden würden als „Feinde Christi“ die Hostie durchbohren, um damit den Leib Jesu erneut zu verletzen. Dieser Vorwurf der Hostienschändung hat häufig zu antijüdischer Gewalt geführt. Damals kam auch die Befürchtung auf, die Juden würden

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das Blut von Christen zu rituellen Zwecken benötigen und deshalb Christenknaben rauben oder kaufen, um sie dann zu ermorden. Obwohl diese Vorstellung im Widerspruch zur ausgeprägten Abneigung gegen den Genuss von Blut im Judentum stand (Das Schächtungsgebot sieht beispielsweise das völlige Ausbluten des geschlachteten Tieres vor. Blutig wird das Fleisch als unrein angesehen.) und auch die Kirchenführer ihr widersprachen, verbreitete sich diese so genannte Ritualmordlegende in ganz Europa und hat bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein immer wieder Anlass zu antijüdischen Übergriffen gegeben. Die Vorstellung, dass Andersgläubige Kinder misshandeln und zu rituellen Zwecken opfern, ist historisch und geographisch weit verbreitet. Diese Bedrohungsängste, zu denen – etwa angesichts der sich rasch ausbreitenden Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts – auch die Angst vor Brunnenvergiftungen gehört, machten die Juden zu einer dämonisierten Minderheit, die sich angeblich gegen die Christen verschworen hatte.

Judenverbrennung 1933-1945
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Judenverfolgung
Judenverbrennung in Köln im Zeitalter der Pest: Oft endeten solche Pogrome mit der Vernichtung ganzer Gemeinden.

Soziale Stereotype

Die geschilderte Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert führte zu einer deutlichen Verschlechterung der gesellschaftlichen Stellung der Juden. Kirchlicherseits wurden sie durch die Bestimmungen des IV. Laterankonzils von 1215 zu einer sozial ausgegrenzten Gruppe (Kennzeichnung der Kleidung, Ausschluss von öffentlichen Ämtern). Ihnen wurde die Zulassung zu den sich als christliche Bruderschaften verstehenden Zünften versperrt. Dies zwang die Juden zu einer ökonomischen Spezialisierung auf Handel und Geldleihe, die den Christen aus religiösen Gründen verboten war. Als Finanziers der Feudalherren und der Städte und als Großkaufleute galten sie als „reiche Wucherer“, was sie zu einer lohnenden Beute in politischen Konflikten und zum Ziel von Übergriffen machte. Vor allem ihre Schuldner hatten ein Interesse, mit den Juden auch zugleich ihre Schulden loszuwerden.
Mit der Lockerung des kirchlichen Wucherverbots (das heißt für die Bereitstellung von Kapital Zinsen zu erheben) wurden Juden durch ihre christlichen Konkurrenten auf die Geldleihe für die ärmeren Schichten und die Hehlerei abgedrängt und damit selbst zu verarmten und verfemten Außenseitern. Auch wenn keineswegs alle Juden zur reichen Schicht der Finanziers gehörten und die Juden später überwiegend eine verarmte Gruppe darstellten, blieb das Bild des „reichen Juden“ als Stereotyp haften. Die berufliche Spezialisierung hielt sich teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein, so dass sich das Vorurteil festigte, das die Juden mit Geld(-gier), Kapitalismus und Ausbeutung verband. Man sprach Ende des 19. Jahrhunderts von der „Goldenen Internationale“ und verknüpfte dabei die Vorstellung einer großen Finanzmacht der Juden mit dem altbekannten Vorwurf der Weltverschwörung. Bis ins 19. Jahrhundert hinein bildeten die Juden eine von der Mehrheitsgesellschaft verachtete, randständig lebende Gruppe mit einem hohen Grad an Selbstverwaltung und einer sehr kleinen und reichen Oberschicht von Hofjuden, die primär mit wirtschaftlichen Aufgaben betraut waren (zum Beispiel Hofbankiers).
Im Laufe der Judenemanzipation, das heißt ihrer allmählichen rechtlichen und sozialen Integration in die christliche Gesellschaft im Zuge der Aufklärungsbewegung, engagierten sich Juden besonders in den politisch fortschrittlichen Bewegungen und Parteien (Liberalismus, später Sozialismus und Kommunismus), die sich für die Gleichstellung der Juden einsetzten und weniger antijüdisch

waren als christlich-konservative und völkisch-nationalistische Parteien und Organisationen. Aus diesem politischen Engagement einer intellektuellen Minderheit entwickelte sich das Stereotyp des zu Radikalismus und Umsturz neigenden Juden. Dieser Vorwurf traf besonders die linken und liberalen Parteien der Weimarer Republik, die von ihren Gegnern als „Judenrepublik“ verunglimpft wurde. Die Nationalsozialisten sprachen dann vom „jüdischen Bolschewismus“, um damit nach der russischen Oktoberrevolution die in der deutschen Bevölkerung verbreitete Furcht vor einem kommunistischen Umsturz für ihren Antisemitismus zu instrumentalisieren.

Rassebegriff

Der Begriff „Rasse“ wurde in der Anthropologie seit Ende des 17. Jahrhunderts beschreibend als naturgeschichtlicher Begriff verwendet, um Gruppen von Tieren und Menschen mit gemeinsamen äußeren Merkmalen zu kategorisieren; doch stuften bereits die frühen Klassifikationsschemata Menschen in höhere und niedere Arten ein. An diese Rassentypologien knüpfte der französische Graf Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) in seinem geschichtsphilosophischen „Essai sur l'inégalité des races humaines“ (1853/55) an, in dem er die Ungleichheit von Menschenrassen postulierte und soziale Schichtung auf Rassenunterschiede und den angeblichen neuzeitlichen „Kulturverfall“ auf die fortschreitende Rassenmischung zurückführte. Die „arische weiße Rasse“ verkörperte für ihn den Gipfel kultureller und moralischer Entwicklung, doch sah er ihre Überlegenheit durch Rassenmischung bedroht. Mit diesem Ariermythos, der Betonung des Blutes und der Unterscheidung in niedere und edlere Rassen hatte Gobineau ein Denkmodell für den rassistischen Antisemitismus vorgegeben. Einen neuen Gedanken führte der Sozialdarwinismus, eine im Anschluss an Charles Darwin (1809–1882) entstandene sozialphilosophische Strömung ein, indem er dessen Entwicklungstheorie der natürlichen Zuchtwahl von der Pflanzen- und Tierwelt auf die menschliche Gesellschaft übertrug. Die Darwinsche Anpassungstheorie vom „survival of the fittest“ wurde zum „Kampf ums Dasein“ zwischen „höheren“ und „niederen“ Rassen umgedeutet. Houston Stewart Chamberlain verband in seinem weit verbreiteten Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (1899) den Mythos vom reinrassigen „Arier“ als Kulturträger mit dem Gedanken des Rassenkampfes, wonach die „Arier“ der minderwertigen „Mischlingsrasse“ der Juden in einem historischen Endkampf gegenüberstünden, in dem es nur Sieg oder Vernichtung geben könnte. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde so der vorher religiös oder ökonomisch begründete Antisemitismus zur „Rassenfrage“ erklärt, wobei der vage Rassenbegriff eine Reihe anderer Begriffe wie Volk, Nation, Arier, Deutsch- und Germanentum umschloss. Die nationalsozialistische Rassentheorie setzte diese Tradition fort. Sie lehnte eine Vermischung der Rassen ab. Entsprechend wurden sexuelle Kontakte von „Ariern“ und Juden ab 1935 als „Blutschande“ strafrechtlich verfolgt. Das vulgärantisemitische NS-Blatt „Der Stürmer“ charakterisierte die Juden als zersetzende Elemente und als sexuelle Bedrohung und stufte sie rassentypologisch als „niedere Rasse“ ein. Andererseits galten die Juden als gefährlichster Gegner im weltgeschichtlichen Endkampf („Gegenrasse“), wurden sie doch – unlogischerweise – als die „Drahtzieher“ sowohl hinter dem amerikanischen Kapitalismus („Wall Street“) wie auch hinter dem sowjetischen Kommunismus („jüdischer Bolschewismus“) vermutet. In der Geschichte sind also negative Einstellungen zu Juden aus ganz unterschiedlichen Gründen entstanden und weiter vermittelt worden: Die früheste Schicht bildet die religiöse Feindschaft des Christentums gegenüber dem Judentum. Die (von der christlichen Gesellschaft erzwungene) besondere Berufsstruktur der Juden seit dem Mittelalter führt auf eine zweite Schicht: Die ökonomisch begründete Judenfeindschaft, in der die Juden als Wucherer, Betrüger, später als ausbeuterische Kapitalisten und Spe-

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kulanten gebrandmarkt wurden. Damit eng verbunden ist eine weitere Dimension, nämlich die Vorstellung von den Juden als einer mächtigen Gruppe, die mit ihrem Geld weltweit die Politik bestimmt. Hierher gehört das Stereotyp des „Drahtziehers“, der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung und Pressemacht. Eine weitere Schicht bilden rassistische Vorstellungen über den jüdischen Körper, also die vom schwachen, unsoldatischen (Stereotyp des „Drückebergers“), hässlichen, gebückten und hakennasigen Juden (was die jüdischen Frauen angeht, so dominierte das exotische Bild der „schönen Jüdin“), zum anderen die Fantasien vom sexuell bedrohlichen Juden. Alle diese Dimensionen des antijüdischen Vorurteils sind bis in die Gegenwart mehr oder weniger wirksam geblieben und finden sich heute in aktualisierter Form wieder

Wandel des Judenbildes

Trotz des Holocaust änderte sich das antijüdische Stereotyp zunächst wenig. Als im Jahre 1951 Studenten der Freien Universität Berlin in einer Studie zu „Nationalen Vorurteilen“ Völkern Eigenschaften aus einer Liste von über 300 Merkmalen zuordnen sollten, fanden sich die genannten Stereotype wieder: Es dominierten abwertende Kennzeichnungen des ökonomischen und sozialethischen Verhaltens (Handelsvolk, materiell eingestellt, Schacherer, scheut körperliche Arbeit, raffgierig, Ausbeuter), gefolgt von Begabungen (gute Ärzte, Wissenschaftler, intelligent, redegewandt, sprachbegabt, musikalisch). Diese positiven Stereotype sind allerdings als ambivalent anzusehen, da positive Eigenschaften bei einem „Feind“ natürlich gefährlich sind: Dies ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass Juden einerseits als intelligent (wie die Deutschen sich selbst sehen), andererseits als raffiniert und schlau charakterisiert wurden. Das rassistische Körperbild lebte in dieser Zeit ebenfalls fort (krumme Nase, unsoldatisch), ebenso wie die Vorstellung eines engen Zusammenhalts der Gruppe („rassebewusst, Zusammengehörigkeitsgefühl, familiengebunden“). Vom historisch überlieferten Bild fehlten die Dimensionen des religiösen Konflikts und der Politik (radikal, kommunistisch). Eigenschaften, die exklusiv nur einem Volk zugeschrieben werden, spiegeln besonders gut das Stereotyp dieser Gruppe. Demnach werden die Juden als „krummnasig, raffiniert, schlau, raffgierig und heimatlos“ bezeichnet, als „Schacherer und Ausbeuter mit einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl“. Es wird damit ein deutlich negativ akzentuiertes Bild einer Gruppe entworfen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft dazugehört (heimatlos), aber untereinander eng zusammenhält, und die andere Nationen ausbeutet. Zur Einschätzung der Beziehung zwischen zwei Gruppen ist der Vergleich zwischen dem Selbst- und dem Fremdbild aufschlussreich. Die deutschen Studenten des Jahres 1951 schrieben Deutschen und Juden zwar bestimmte Begabungen („Intelligenz, sprachbegabt, Wissenschaftler“) gleichermaßen zu, aber wesentliche Züge des deutschen Selbstbildes („pflichtbewusst, sauber, fleißig, gründlich, zuverlässig, anständig, gemütlich, aber auch tapfer, guter Soldat“) fehlten bei den Angaben zu den Juden, manche Eigenschaften, die beide Gruppen charakterisieren sollten, standen sogar in Opposition: „heimatliebend – heimatlos; militaristisch/der beste Soldat – unsoldatisch; Idealist – materiell eingestellt;

Arbeitstier – scheut körperliche Arbeit“. Vergleichen wir nun diese frühen Ergebnisse mit der Eigenschaftsliste einer repräsentativen Meinungsumfrage aus dem Jahre 1987 (wiederholt 1993; ermittelt mit dem Verfahren der Faktorenanalyse), zeigen sich gegenüber 1951 sowohl Konstanz wie Veränderungen, die sich in sechs Dimensionen zusammenfassen lassen.

· In dem Vorstellungskomplex der „jüdischen Weltverschwörung“ werden die Juden als „machthungrig, verschwörerisch, unheimlich, rücksichtslos, hinterhältig und politisch radikal“ betrachtet. Im Durchschnitt schreiben allerdings nur circa 15 Prozent der Befragten den Juden diese Eigenschaften zu. Diese Verschwörungstheorie ist heute vor allem in der arabischen Welt verbreitet. Die Antisemiten in Deutschland machen „jüdischen Einfluss“ dafür verantwortlich, dass es nicht gelingt, „einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen“. Hier werden gesellschaftlich nicht zu steuernde Prozesse öffentlicher Diskussion und Erinnerung auf die vermeintliche (Presse-)Macht einer Gruppe zurückgeführt. Diese Personalisierung von sozialen Prozessen ist typisch für vorurteilshaftes Denken.

· In der deutschen Bevölkerung werden die Juden am häufigsten als fest zusammenhaltende religiöse Gruppe gesehen (70 Prozent). Ähnlich wie 1951 wird dieses Festhalten an Tradition und Religion nicht (mehr) negativ bewertet, der alte christlich-jüdische Gegensatz scheint an Bedeutung verloren zu haben. Dies liegt an dem relativen Bedeutungsverlust von Religion (Säkularisierung), an der veränderten Haltung der Kirchen zum Judentum sowie daran, dass mit dem Islam (in seiner fundamentalistischen Variante) ein neues Feindbild entstanden ist.

· Sozialethische Verhaltensstandards wie „Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Treue“ und so genannte Sekundärtugenden wie „Ordnung, Sauberkeit, Fleiß“ bewerten im Durchschnitt nur 20 Prozent der Deutschen als typische Eigenschaften von Juden. Vor allem Ehrlichkeit und Treue werden mit elf Prozent nur selten zugeschrieben.

· Das traditionelle Bild vom „hässlichen und feigen“ Juden, der „schwächlich und unsoldatisch“ ist, hat sich fast völlig verloren: Nur vier Prozent schreiben Juden diese Eigenschaften zu. Dies zeigt, dass es durchaus Veränderungen in der Vorurteilsstruktur gibt, wenn Zuschreibungen keinerlei empirischen Anhaltspunkt mehr haben und das Urteil der Wahrnehmung zu krass widerspricht. Das Bild der israelischen Kibbuzim und der erfolgreichen israelischen Armee dürfte das alte Bild überlagert haben. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass die mittelalterliche religiöse Dämonisierung des Juden, dessen Bosheit sich in einem abstoßenden Äußeren zeigen musste, in der modernen Welt ihre Funktion verloren hat.

· Das traditionell dominante ökonomische Stereotyp des geschäftstüchtigen Juden bildet bis heute den Kern des antijüdischen Vorurteils: 43 Prozent der befragten Deutschen stimmen diesem negativen Bild zu. Der Grund dürfte darin liegen, dass gerade in den deutsch-jüdischen Beziehungen nach 1945 die Frage der Entschädigung für verfolgungsbedingte gesundheitliche Schäden und materielle Verluste (so genannte Wiedergutmachung) eine zentrale Rolle

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gespielt hat. Dies hat bei nicht wenigen Deutschen das Vorurteil „bestätigt“, es ginge „den Juden“ bei der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust vorrangig um ökonomische Vorteile.

· Neu gegenüber 1951 hinzugekommen ist das Vorurteil vom nachtragenden Juden. Es spiegelt eine wichtige Facette im deutsch-jüdischen Verhältnis wider, nämlich die Tatsache, dass die Juden als Mahner an die Verbrechen der NS-Vergangenheit gesehen werden, die angeblich nicht vergessen und vergeben wollen. Fast ein Drittel der befragten Deutschen (29 Prozent) hielt die Juden für „empfindlich, nachtragend und unversöhnlich“. Dieses neue Bild kann allerdings auf einem älteren und immer noch wirksamen religiösen Stereotyp aufbauen, nämlich dem des „rachsüchtigen“ jüdischen Gottes („Rache bis ins siebte Glied“), dem der christliche Gott der Liebe und Vergebung entgegengesetzt wird.

Antisemitismus heute

Wie ist es nun zu erklären, dass bestimmte Dimensionen des antijüdischen Vorurteils noch von vielen Deutschen geteilt werden und andere nicht mehr, obwohl nichtjüdische Deutsche mit Juden im Alltagsleben kaum je zusammentreffen? Die Erklärung liegt darin, dass sich vor allem die Vorurteile gehalten haben, die sich mit neuen Inhalten haben füllen lassen, die also die alten Vorurteile scheinbar „bestätigen“. Diese Inhalte ergeben sich primär aus den Problemen, die die Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit haben. Anders als bei den Vorbehalten gegen Ausländer gibt es gegenüber den Juden in Deutschland kaum Gefühle einer ökonomischen Konkurrenz oder einer kulturellen Bedrohung durch eine große Zahl von Zuwanderern; auch Rassismus ist hier ohne Bedeutung. Umfragen zeigen, dass die soziale Distanz zu Juden heute sehr gering ist. Auch der religiöse Gegensatz zwischen Judentum und Christentum spielt weder in den Kirchen noch in der Bevölkerung eine wesentliche Rolle. Die Motive des Antisemitismus liegen vorwiegend in dem Schuldgefühl gegenüber den Juden, das in verschiedener Weise abgewehrt wird:

· Man schreibt den Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung zu: Dies tun seit fünf Jahrzehnten circa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die glauben, „dass die Juden mitschuldig sind, wenn sie gehasst und verfolgt werden“. Hier haben wir es mit der Denkweise „Wo Rauch ist, ist auch Feuer“ zu tun, die aus der Tatsache, dass Juden in der europäischen Geschichte häufig verfolgt wurden, schließt, dafür müsse es Gründe im Verhalten der Juden gegeben haben. Es ist deshalb für die Entkräftung von Vorurteilen wichtig, sich historisch die gesamte Breite der christlich-jüdischen Beziehungen zu vergegenwärtigen und diese nicht auf eine reine Konflikt- und Verfolgungsgeschichte zu reduzieren.

· Man unterstellt den Juden, dass sie ihre Leiden unter der NS-Verfolgung heute dazu benutzen, um möglichst hohe Summen an „Wiedergutmachungs“-Geldern zu kassieren. Dieses Vorurteil verbindet sich mit dem traditionellen Bild des „geldgierigen, betrügerischen und ausbeuterischen Juden“. Eng verbunden damit ist die Vorstellung vom großen Einfluss, den Juden ausüben, um die Deutschen zu weiteren Zahlungen zu zwingen. Auch hier kann sich das neue Motiv mit dem

alten Vorurteil von der „jüdischen Weltmacht“ verbinden, das heute ebenfalls noch von vielen Deutschen vertreten wird. Der Vorwurf, die Juden würden ihren Einfluss geltend machen, um die Deutschen auszubeuten, ist ein klassisches Beispiel für die im Antisemitismus generell zu beobachtende Täter-Opfer-Umkehr.

· Die Juden werden als „Störenfriede“ gesehen, die durch ihr Beharren auf der Erinnerung an den Holocaust – der Schriftsteller Martin Walser sprach 1998 öffentlich von der „Moralkeule Auschwitz“ – permanent an eine Periode deutscher Geschichte gemahnen, die viele gern vergessen würden: Jeweils zwei Drittel der Deutschen würden am liebsten „einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit“ ziehen. Auch hier verbindet sich ein aktuelles Unbehagen mit alten, aus dem Antijudaismus stammenden Negativurteilen über die „alttestamentarische Vergeltungssucht“ der Juden.

· Durch die Gründung des jüdischen Staates ist eine neue Vorurteilsdimension hinzugekommen, indem man nun die einheimischen Juden, die deutsche Staatsbürger sind, für die Politik Israels verantwortlich macht. Hier treffen wir auf ein weiteres wichtiges Motiv des heutigen Antisemitismus unter Deutschen: Die eigene Schuld an der Verfolgung der Juden soll verkleinert werden, indem man sie gegen Menschenrechtsverletzungen der Israelis im Nahostkonflikt aufrechnet. 17 Prozent waren 1987 der Meinung, dass das, „was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, im Prinzip auch nichts anderes ist als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“ (33 Prozent unentschieden, 50 Prozent stimmten nicht zu).

· Mit der Zuwanderung von Aussiedlern, Osteuropäern und Muslimen kommen allerdings auch andere „Spielarten“ des Antisemitismus nach Deutschland, sodass auch religiöse Formen des Vorurteils (Antijudaismus) und vor allem ein antizionistisches Feindbild, gespeist durch den arabisch-israelischen Konflikt, anzutreffen sind.

"Zigeuner" und Juden in der Literatur nach 1945

Die Nachkriegsliteratur hat nur wenige „Zigeuner“- und Judenfiguren hervorgebracht; erkennbar sind sie an ihren meist stereotypen und grob vereinfachenden Charakterisierung-
en. Der „Zigeuner“ und der Jude sind gängige Projektionsfiguren für das „Andere“ oder das unverstandene „Fremde“ einer Gesellschaft, wobei die ihnen zugeschriebenen Merkmale zu den typischen Eigenschaften ihres ganzen Volkes stilisiert werden.

Judendarstellungen

David-Stern
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David-Stern
Der gelbe David-Stern: Absonderung und Diskriminierung war schon im Mittelalter das Ziel der Kennzeichnungs-Pflicht für Juden.

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Antisemitismus
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Ungleich dem Bild des „Zigeuners“, dessen Legendenvorrat in der Literatur nach 1945 unverändert geblieben ist, existieren nach dem Holocaust neben den alten Stereotypen der „schönen Jüdin“ und dem „gewissenlosen und geizigen Juden“ auch neue. Neu an den zunächst wenigen literarischen Judenbildern seit 1945 ist die Reduktion des Juden auf ein schutz- und wehrloses Opfer, wofür Bruno Apitz' erfolgreicher Roman „Nackt unter Wölfen“ (1958) steht. Im Mittelpunkt des Romans steht ein kleiner jüdischer Junge, der von Auschwitz nach Buchenwald geschmuggelt und dort von kommunistischen Häftlingen versteckt und gerettet wird. Die Konzentration auf ein Kinderschicksal ist ein beliebter Kunstgriff, bei dem, weil das Grauen „verkleinert“ wird, die Sympathie und die Identifikation der Lesenden gewiss scheint. Nicht das Ausmaß der Vernichtung ist zentral und drängt ins Bewusstsein, sondern die Tatsache, dass ein Kind leiden muss. Schwieriger ist das Werk von Alfred Andersch zu bewerten, der wie kein anderer Nachkriegsautor Judenfiguren zum Thema gemacht hat. In seinem Roman „Efraim“ (1967) führt er einen deutsch-jüdischen Intellektuellen als Ich-Erzähler ein, der – vom frühen Exil und der Ermordung der Eltern in Auschwitz geprägt – nach Berlin kommt, um nach seiner Kinderfreundin Esther zu suchen. Während Efraim zu Beginn von Esthers Tod nahezu überzeugt ist, hat er am Ende Grund zur Annahme, dass sie bei Nonnen überlebt hat. Einerseits zeigt sich in Anderschs jüdischer Figur ein Hang zur Bagatellisierung der Ereignisse – als jüdische Figur darf Efraim ungestraft über die Zufälligkeit des Holocaust räsonieren –; auch lässt sein Buch eine Faszination an der fragwürdigen Verbindung von „Kitsch und Tod“ (Saul Friedländer) erkennen. Andererseits beschwört er die antisemitische Legendenfigur des „ewigen Juden“, um dessen mythisches Schicksal als unzeitgemäßes Gegenmodell zu seinem differenziert dargestellten und sehr lebendigen Ich-Erzähler darzustellen.

Assoziative Wirkungen

Im Hinblick auf Stereotype in der Literatur ist zu unterscheiden zwischen der Intention des Autors und dem von ihm ungewollt zum Ausdruck kommenden Vorrat unreflektierter Bilder. Durch die blinde Übernahme von Legenden und Vorurteilen hat die Belletristik mit dazu beigetragen, dass aus Sinti und Roma „Zigeuner“ und dass Juden holzschnittartig dargestellt wurden. Stereotype „Zigeuner“-
bilder treten in zwei mitunter auch zusammenwirkenden Varianten auf:

1. Das negative Klischee, das dem „Zigeuner“, wie in Schnurres Erzählung „Jenö war mein Freund“, in der Kriminalisierung eine fundamentale Andersartigkeit unterstellt. Das traditionelle Bild des zwanghaft stehlenden Zigeuners ohne Unrechtsbewusstsein löst die

Assoziationskette aggressiv, dreckig, asozial, arbeitsscheu, betrügerisch, gefährlich, kriminell aus.

2. Das überwiegend in Schauerromanen und Abenteuergeschichten, aber auch in Jugendbüchern nach 1945 („Mond, Mond, Mond“ von Ursula Wölfel) greifende positive Klischee, das romantisch-verklärend mit der Vorurteilsstruktur der „Zigeuner“ als freien, stolzen, wilden, lebensfrohen, sinnlichen Genüssen ergebenen Menschen operiert. Die „positive“ Kennzeichnung ist ebenso wie die negative ein Indiz für das Fehlen jeder Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Figuren und birgt durch den Abbau an Komplexität die Gefahr einer Verklärung der Umstände zum Sozial- oder Milieukitsch.
Obwohl „Zigeuner-“ und Judenbildern unterschiedliche Feindvorstellungen zugrunde liegen – der „Zigeuner“ hat in der Personifikation von „Natur“ keinen Anteil am Prozess der Zivilisation, während der Jude eben diesen Prozess, Modernität und Modernisierung, verkörpert – gilt das negative wie das positive Klischee vom Zigeuner gleichermaßen für stereotype Judenfiguren.

Jenseits von Typisierungen

Eine wichtige Voraussetzung zur Vermeidung von Stereotypen ist die Einsicht, dass von außen herangetragene Typisierungen sehr viel mehr über die Mehrheitsgesellschaft als über leibhaftige „Zigeuner“ und Juden aussagen. Bei Autoren wie Johannes Bobrowski („Levins Mühle“, 1964), Erich Hackl („Abschied von Sidonie“, 1989) und Winfried Georg Sebald („Die Ausgewanderten“, 1992) bildet diese Einsicht einen Teil ihres Selbstverständnisses. In ihrer literarischen Annäherung an „Zigeuner“ und Juden hinterfragen sie das Arsenal der Mythen und Stereotype, indem sie der heiklen Tradition an Vorurteilen den Spiegel vorhalten. Diese Beispiele erschöpfen sich nicht in der Aufhebung eines Informationsdefizits im Hinblick auf Sinti, Roma und Juden, sondern bieten in ihrer Darstellung und Bewertung von Problemen, Konflikten und Auswegen auch eine Form der Informationsverarbeitung jenseits traditioneller Stereotype an. Daneben können literarische Selbstentwürfe der Betroffenen hartnäckige Legenden korrigieren. Erinnerungen wie Ceija Stojkas „Wir leben im Verborgenen:
Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin“ (1988) und Marcel Reich-Ranickis „Mein Leben“ (1999) halten dem Stereotyp die Vielfalt individueller Erfahrungen entgegen und verhindern, indem die eigene Geschichte selbst erzählt wird, die Degradierung zum Objekt.


Eine Vorstellung darüber, was eine jüdische Familie zur Zeit des dritten Reiches mitmachen musste und wie ihre Mitglieder systematisch dezimiert wurden, zeigt das Beispiel der Familie Chotzen