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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Journalseite November 2019
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Der Judenpogrom 1938 -
Von der "Reichskristallnacht"
zum Völkermord
"Damals glaubten wir, dass dies der Höhepunkt der Judenverfolgung sei. In Wahrheit war es das letzte Alarmsignal vor der Vernichtung." Von dieser dramatischen Fehleinschätzung handelt das vorliegende Buch.

Aus dem Inhalt:

Wolfgang Benz: Bericht über Pogrom
Trude Maurer: Die Ausweisung der >>Ostjuden<< als Vorwand
Uwe D. Adam: Wie spontan war der Pogrom?
Avraham Barkai: Die Ausplünderung der deutschen Juden
Jonny Moser: Die Entrechtung durch Gesetze, Erlasse u.ä.
Konrad Kwiet: Gehen oder bleiben? – die Existenzfrage
Wolf Zuelzer: Erinnerungen eines Ausgewanderten
Hermann Graml: Zur Genesis der >>Endlösung<<
Hans Mommsen: Was haben die Deutschen gewusst?
Abraham J. Peck: Erneut gefangen: Juden in DP-Lagern

Autor: Wolfgang Benz u.a.
ISBN: 3-596-24386-6

Buchauszug
Bürokratische Nachspiele
Von Amts wegen waren im ganzen Deutschen Reich viele Personen verpflichtet, höheren Stellen über die Ereignisse im November 1938 zu berichten: Polizisten, Bürgermeister, Landräte, Regierungspräsidenten auf der staatlichen Seite ebenso wie die Funktionäre der NSDAP und ihrer Gliederungen. Von den letzteren waren kritische Töne selbstredend nicht zu erwarten, allenfalls kam indirekt zum Ausdruck, daß der Pogrom nicht von der Begeisterung der ganzen Bevölkerung getragen war. Aus dem oberbayerischen Landkreis Traunstein wurde berichtet: »Die Stimmung ist angesichts der friedlichen Angliederung des Sudetenlandes an das Reich gut und konnte auch durch die Aktion gegen die Juden im wesentlichen nicht getrübt werden. Die Bauern und Bürger, allen voran die Schwarzen, mitunter sogar ein Pg., geißelten die Gewaltanwendung gegenüber dem > auserwählten Volke<. Das habe mit Kultur und Anstand nichts mehr zu tun. Es fehlte aber auch nicht an Verteidigern, welche diesen neunmalklugen Kritikern die Leviten lasen und ihnen bewiesen, daß die brennenden Synagogen und zerbrochenen Fensterscheiben einerseits nur eine bescheidene Revanche gegenüber den, dem deutschen Volke, ja den Völkern Europas, durch die Juden zugefügten Schäden (Krieg, Revolution, Inflation, Gewaltherrschaft und Bürgerkrieg) sind, und daß andererseits auch hier wie in der römisch-katholischen Kirche der Zweck die Mittel heilige: Nämlich den Juden möge hierdurch der Appetit an weiterem Verbleib im Reiche vergehen.«
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Buchauszug
Dagegen behauptete die Kreispropagandaleitung der NSDAP in Eichstätt, bei der »Judenaktion« sei »das Volk restlos in der Hand der Partei« gewesen, einmütig habe die Bevölkerung den »Angriff« gutgeheißen. In den Monatsberichten der Gendarmeriestationen im oberfränkischen Landkreis Ebermannstadt war die Stimmung in der Bevölkerung jedoch als zwiespältig beschrieben worden. Die Zerstörung jüdischer Geschäfte und der Synagogen sei von einem Teil der Bevölkerung begrüßt worden, und zwar »von alten Kämpfern und den jüngeren Leuten, die schon aus der Hitlerjugend hervorgegangen sind. Dagegen wurde von der Mehrzahl der Bevölkerung hierfür kein Verständnis aufgebracht, daß man ohne weiteres fremdes Eigentum zerstören darf.« Eine andere Gendarmeriestation meldete: »Bezüglich der jüngst erfolgten Aktion gegen die Juden ist die Bevölkerung zweierlei Meinung. Der eine Teil der Bevölkerung vertritt den Standpunkt, daß bewußte Aktionen mit den damit zusammenhängenden Verhaftungen und Zerstörungen noch viel zu mild ausgefallen seien. Der andere Bevölkerungsteil aber, und das ist der weitaus größte, ist der Anschauung, daß diese Zerstörungen nicht am Platze gewesen seien. In diesem Zusammenhang erscheint noch erwähnenswert, daß in der Bevölkerung schon wiederholt die Frage aufgeworfen wurde, ob die an der Aktion beteiligten Personen auch der Bestrafung zugeführt werden.« In den Bericht des Bezirksamts Ebermannstadt sind viele derartige Beobachtungen eingeflossen. Der Verfasser beschrieb den in seinem Bezirk angerichteten Sachschaden und überlieferte spezielle Formen der Bereicherung, die in der Form vonstatten gingen, »daß Schuldner ihre jüdischen Gläubiger unter körperlicher Einwirkung zwangen, vorgeschriebene Quittungen über die angebliche Bezahlung der Schulden zu unterzeichnen. Ja, sogar Grundstücke mit Gebäuden wurden auf diese Art und Weise unentgeltlich übereignet.«
Dieser Berichterstatter scheute sich auch nicht, seiner vorgesetzten Stelle - dem Regierungspräsidenten von Ober- und Mittelfranken -mitzuteilen, daß das Rechtsbewußtsein der Bürger durch den Pogrom ins Wanken geraten sei; und er schrieb in den Bericht, den er mit dem Satz, »Die wichtigsten Gesprächsstoffe waren und sind auch heute noch die Vergeltungsmaßnahmen gegen die Juden und die Schweinefleischknappheit«, geschäftsmäßig eröffnet hatte: »Vom Standpunkt der Polizeibeamten aus habe ich dazu noch folgendes beizufügen: Vergeltungsmaßnahmen gegen einzelne Volksgenossen, die sich an dem Volke versündigen, darf das Volk nur durch die hierzu berufenen Organe des Staates ausführen lassen. Das sind die Strafverfolgungs- und Strafgerichtsbehörden. Der einzelne Volksgenosse ist weder für sich allein noch durch Zusammengehen mit anderen Volksgenossen dazu befugt. Daher die strengen Bestimmungen über die Bestrafung des Verbrechens des erschwerten Landfriedensbruchs. Die Autorität der Polizei muß notgedrungen einen schweren Schlag erleiden, wenn sie eine solche Straftat
unbeanstandet geschehen läßt. Ein solches Verhalten wird dann entweder als Parteilichkeit beurteilt oder als Unfähigkeit, die Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit gewährleisten zu können. Justitia fundamentum regnorum!«
Auf der Regierungspräsidenten-Ebene war die Berichterstattung mindestens in Stil und Tonfall den Erwartungen der höheren Instanzen angepaßt. So hieß es im Bericht der Verwaltungsspitze von Ober- und Mittelfranken: »Die freche Herausforderung des Weltjudentums durch den feigen Mord in Paris war für zahlreiche Lehrer des Regierungsbezirks Veranlassung, aufgrund ihrer nationalsozialistischen Einstellung zur Judenfrage den Religionsunterricht niederzulegen. Im Verlauf der Protestaktion gegen die Juden wurden in Wunsiedel auch zwei evangelische Geistliche und vier katholische Pfarrer, die als >Judenknechte< gelten, durch die empörte Volksmenge auf die Polizeiwache verbracht und dort vorübergehend festgehalten. In den Pfarrhäusern wurde eine Anzahl Fensterscheiben zertrümmert.«
Auch der Regierungspräsident von Schwaben befleißigte sich der Sprache des Völkischen Beobachters: »Helle Empörung weckte allenthalben der feige Meuchelmord an dem Gesandtschaftsrat 1. Klasse vom Rath. Deutlich erkennbar für alle unterstrich dieser Mord die weltgeschichtliche Bedeutung der Judenfrage und die Notwendigkeit ihrer kompromißlosen Lösung, die in den Reden führender Männer, durch die Aufklärungstätigkeit der Partei und andere Mittel der Führung, wie Presse und Rundfunk, immer wieder betont worden war. Nach solchem Anschauungsunterricht wurden die Gegenwirkungen des Volkes in Gestalt von Demonstrationen und Aktionen gegen Juden und jüdischen Besitz, insbesondere Synagogen, und jene der Reichsregierung durch Verordnungen, namentlich über die Sühneleistung der deutschen und staatenlosen Juden und zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben, allgemein verstanden und - hauptsächlich die wirtschaftspolitischen Maßnahmen - von immer mehr Volksgenossen auch grundsätzlich gebilligt, zumal ja den Juden ihr kulturelles Eigenleben immer noch unverwehrt bleibt.«
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In anderen Berichten wurde zwar geschmeidig die amtliche Sprachregelung angewendet, dann aber die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß viele nicht mit dem Pogrom einverstanden waren. »Die jüdische Mordtat an dem deutschen Gesandtschaftsrat in Paris löste in allen Kreisen der Bevölkerung helle Empörung aus; allgemein wurde ein Einschreiten der Reichsregierung erwartet. Die gegen das Judentum gerichteten gesetzlichen Maßnahmen fanden deshalb vollstes Verständnis. Um so weniger Verständnis brachte der Großteil der Bevölkerung für die Art der Durchführung der spontanen Aktion gegen die Juden auf; sie wurde
vielmehr bis weit in Parteikreise hinein verurteilt. In der Zerstörung von Schaufenstern, von Ladeninhalten und Wohnungseinrichtungen sah man eine unnötige Vernichtung von Werten, die letzten Endes dem deutschen Volksvermögen verlorengingen, und die in krassem Gegensatz stehe zu den Zielen des Vierjahresplans, insbesondere auch zu den gerade jetzt durchgeführten Altmaterialsammlungen. Auch die Befürchtung wurde laut, daß bei den Massen auf solche Weise der Trieb zum Zerstören wieder geweckt werden könnte. Außerdem ließen die Vorkommnisse unnötigerweise in Stadt und Land Mitleid mit den Juden aufkommen. «
Aus Unterfranken wurde sogar gelinder Protest gemeldet, der sich in der Verweigerung von Spenden für das Winterhilfswerk der NSV - die bei den »Eintopfsonntagen« eingeworben wurden - äußerte. Verursacht war die Verweigerung der ländlichen Bevölkerung weniger durch Mitgefühl mit den Juden als durch die Mißbilligung des Vandalismus gegen Sachwerte und Lebensmittel: »Die Empörung über den feigen jüdischen Mord an dem Gesandtschaftsrat vom Rath führte in der Nacht vom 9. auf 10. November im ganzen Regierungsbezirk zu judenfeindlichen Kundgebungen, denen allenthalben die Synagogen sowie eine Anzahl jüdischer Laden- und Wohnungseinrichtungen zum Opfer fielen. Die Sühnemaßnahmen und insbesondere die Auferlegung einer Geldbuße werden allgemein gebilligt. Von einem Großteil, insbesondere der ländlichen Bevölkerung, wird bedauert, daß bei den Aktionen Werte vernichtet wurden, die mit Rücksicht auf unsere Rohstofflage zweckmäßigerweise der Allgemeinheit hätten nutzbar gemacht werden können. Beanstandet wurde ferner, daß die Aktion auch noch nach dem Erlaß des Herrn Reichspropagandaministers, der die sofortige Einstellung anordnete, fortgesetzt wurde und insbesondere auch Lebensmittel mutwillig vernichtet worden seien. So wurden in Obereisbach, Bezirksamt Bad Neustadt a. d. Saale, 3'/2Ztr. Mehl in den Mist und eine Kiste Vorratseier auf die Straße geworfen. Nach dem Berichte eines Bezirksamts haben bei der darauffolgenden Eintopfsammlung viele Volksgenossen erklärt, nachdem so viele Vermögenswerte unnütz vernichtet worden seien, könnten sie sich nicht entschließen, etwas zur Sammlung zu geben. Befürchtungen in bezug auf die Gebefreudigkeit zum Winterhilfswerk werden auch von anderen Bezirksämtern geäußert.« Sowenig amtliche Berichte der geeignete Ort für Gefühlsäußerungen sind, so fällt doch auf, mit welcher Kaltschnäuzigkeit jüdische Todesopfer, die als Folge des Pogroms zu beklagen waren, erwähnt sind. Das Bedauern über die vernichteten Güter war allemal größer, und die Meinung war oft zu hören, man hätte mit weniger rabiaten Mitteln die jüdischen Mitbürger enteignen, entrechten, verdrängen und verjagen können. Im übrigen blieb man kühl und gelassen wie der Oberbürgermeister von Ingolstadt, der rapportierte: »Die Aktion gegen die Juden wurde rasch und ohne besondere Reibungen zum Abschluß gebracht. Im Verfolg dieser Maßnahme hat sich ein jüdisches Ehepaar in der Donau ertränkt.« War das Zynismus oder Barbarei? War es mangelnde Zivilcourage, Feigheit und der Drang, sich anzupassen, waren es die Früchte der Propaganda, oder war es Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus - generelle Mißbilligung des Pogroms und Wegschauen bei persönlicher Konfrontation mit dem Unglück der Juden gingen Hand in Hand. Dazu ein letztes Beispiel. Vier Wochen nach dem Pogrom vergiftete sich in Bayerisch Gmain bei Bad Reichenhall die 67jährige Klara Dapper. Sie hatte, seit 1924 verwitwet, zurückgezogen in ihrem Haus gelebt. In der Nacht zum 10. Dezember 1938 hatten Unbekannte ihr einen Zettel an die Haustür gehängt: »Alle Juden endlich einmal heraus.« Frau Dapper, die seit langem in Angst lebte, beging Selbstmord mit Veronal. Im Polizeibericht hieß es dazu lakonisch: »Die Ortschaft Bayerisch Gmain ist somit judenfrei.« Der Bericht war ein bißchen retuschiert, der Todestag selbst - 13. Dezember - stimmte, aber der Anlaß des Todes war falsch datiert. Damit wurde verschleiert, daß Frau Dapper drei Tage im Todeskampf gelegen hatte. Das Hausmädchen fand sie am Morgen des 10. Dezember bewußtlos und verständigte mehrere Ärzte in Bad Reichenhall, die aber die Behandlung ablehnten. Es gab keine gesetzliche Bestimmung, die »arischen« Ärzten die Hilfeleistung verboten hätte, und den Eid des Hippokrates, der sie zur Hilfeleistung verpflichtete, hatten sie alle einmal geschworen. Als ein jüdischer Doktor schließlich gefunden wurde, war es zu spät.

Quelle: Wolfgang Benz
Der Judenpogrom 1938
ISBN: 3-596-24386-6
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. Main 1999, 8,45 Euro

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