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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
2. Weltkrieg
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Helmut Hilger
Soldat (Heer) von April 1943 bis Mai 1945 als Panzerfahrer.

Stationen u.a.: Paderborn, Frietzen/Oder, Dortmund, Würm, Jülich, Bauchem, Flosdorf, Grafenwöhr, Straussberg, Nauen, Havelberg, Italien (Neapel), Frankreich (St. Aubin, Normandie, Besancon), Ungarn, Österreich (Linz).

Gefangenschaft (russische) von Mai 1945 bis Dezember 1949 in der UDSSR, hauptsächlich in Dnjeprpetrowsk/Ukraine. 1947 3-monatige Flucht von Dnjeprpetrowsk nach Brest-Litowsk.


Panzerfahrer in der Normandie

Helmut Hilger war einer von vielen, die im Juni 1944 "in der Normandie lagen", um eine mögliche alliierte Landung abzuwehren. Der dort kommandierende Generalfeldmarschall Rommel wollte den Gegner "kommen lassen", um ihn dann ins Meer zu werfen. Aber jeder weiß, dass das nicht gelang.
Hilger befand sich einige Kilometer im Hinterland und gehörte zu dem Panzerfahrern. Am dritten oder vierten Tag der Landung fing Hein Kober, der Cheffunker seiner Einheit, einen Spruch auf, der ein großes Bombardement gegen 14:00 Uhr ankündigte. Sich noch in Sicherheit wähnend, ging Hilger um 12:00 Uhr in Richtung Küche, um für die Panzerbesatzung Essen zu holen. Als er gerade unterwegs war, begann die feindliche Schiffsartillerie von See aus zu schießen. Man konnte die "Koffer" regelrecht fliegen sehen. Wo sie einschlugen, blieb nichts mehr heile. Ganze Häuser wurden "weggeputzt". Die Einschläge waren gewaltig, ebenso die Erdtrichter, die sie hinterließen. Der überraschte Panzerfahrer sprang nach den ersten Detonationen in den erstbesten Trichter hinein, weil er die Soldatenweisheit kannte, dass einem Einschlag kein zweiter an gleicher Stelle folgte. Es flog ihm viel Dreck um die Ohren, und aus Angst machte der damals 18-jährige in die Hose.
Als der Beschuss nach 45 Minuten vorbei war, ging Hilger zum Orne-Fluss, um sich zu waschen. Als er zur Küche kam, wollte man wissen, warum er so nass sei. Natürlich verschwieg Hilger den wahren Grund und meinte nur, dass er während des Beschusses ins Wasser gesprungen sei. Dass er seine vollgemachte Hose gewaschen hatte, ging ja niemanden etwas an. Den vom Funker "aufgefangenen" Bombenteppich gab es letztendlich nicht. Dieser Bluff sollte nur der "Schiffs-Ari" (Schiffsartillerie) einen Überraschungsmoment sichern.

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Helmut Hilger
Letztlich war es in diesen Tagen teilweise wie in der Hölle. Es existierte keine richtige Front, hinter jedem Strauch konnte jemand sitzen. Wer zu langsam war, den erwischte es. Neben den Luftangriffen gab es auch Panzerkämpfe. Hilger erlebte einen, bei dem die zehn angreifenden alliierten Panzer vollkommen "platt gemacht" wurden. Am Ende großes Kampfgeschrei. Aber letztlich blieb den Deutschen auf Grund der hohen Überlegenheit der Gegner nur der Rückzug, und da gab es "Kampfgeschrei" auf der anderen Seite. Nach 16 Tagen kam für den Boschelner die "Erlösung", weil er am 22.06.1944 durch einen fünf Zentimeter langen Granatsplitter an der Lunge verwundet wurde. Er hat keinerlei Erinnerung mehr daran und weiß nicht, was passiert ist. Sein Erinnerungsvermögen hört zu dem Zeitpunkt auf, als er am Boden lag und einen Kradfahrer kommen sah. Erst im Lazarettzug nach Besancon kam die Besinnung wieder. Bis Oktober 1944 - incl. Genesungsurlaub - konnte er sich danach vom aufreibenden Soldatensein erholen. Und ihm war dieser "Heimatschuss" lieber, als ein Kreuz mit Helm.


Im Lager von Dnjepopetrowsk

Viele, die nach großen Strapazen und Entbehrungen in den russischen Lagern ankamen, waren gesundheitlich am Ende. Man unterschied drei Kategorien, wie sich Helmut Hilger an den vierjährigen Aufenthalt in Dnjepopetrowsk erinnert. Er gehörte während seiner ganzen Zeit der Kategorie 1 an (die Gesündesten). In der Kategorie 3 wurden z.B. Gefangene mit Dystrophie geführt. Die Entlassung hing auch vom Gesundheitszustand ab. Aus dem Grunde kam Hilger erst Ende 1949 nach Hause. Seine Eltern erfuhren 1946 durch eine Postkarte, dass er noch lebte. Danach gab es nur einmal im Jahr ein Lebenszeichen.

Helmut Hilger (unten, 2. v.l.) im Kreise einiger Kumpels.Helmut Hilger (unten, 2. v.l.) im Kreise einiger Kumpels.

Seine erste Arbeit, die er in Dnjepopetrowsk verrichten musste, bestand darin, Schienen einen Berg hoch und dann wieder herunterzuschleppen. Ein jüdischer Aufseher wollte die Deutschen schikanieren. Als der Natschalnik (Chef) der Russen das mitbekam, wurde diese Schikane sofort abgestellt.
Da Helmut Hilger Elektriker war, arbeitete er auch als solcher in der Stadt. Er kümmerte sich um Freileitungen, Stadtbeleuchtung, Straßenbahn oder arbeitete in Autowerken. Er konnte sich in der ukrainischen Metropole weitgehend frei bewegen und empfahl sich durch gute Arbeit.
Nach zwei Jahren fasste er den Entschluss zu türmen. Mit einem Kumpel machte er sich auf den Weg. Er sprach gut russisch und drehte z.B. die Machorka (spezieller Tabak) wie ein Einheimischer. Er war insgesamt zweieinhalb Monate unterwegs und kam ca. 600 km weit bis nach Brest-Litowsk. Die Grenze nach Polen zu überwinden, war jedoch nicht möglich und so wurden sie geschnappt. Seinen Kumpel erschoss man "auf der Flucht", Hilger ließ sich kurz vor der Festnahme einfach in ein Loch fallen und ergab sich seinem Schicksal.
Er wurde solange festgehalten, bis ein russischer Offizier aus seinem Lager kam und ihn abholte. Der Kommentar des Boten: "Gelmut, du bloschoi dorne, patschimu djelat" (Helmut, du Blödmann, warum machst du das?) Beide fuhren wieder zurück nach Dnjepopetrowsk.

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Helmut Hilger
Erst als er wieder im Lager war, wurde er vom Leutnant "zur Sau" gemacht. Er erfuhr, dass die anderen Lagerinsassen eine Zeit lang schikaniert worden waren und somit Grund hatten, auf "Gelmut" sauer zu sein. Der deutsche Lagerkommandant schlug ihn zur Begrüßung voll ins Gesicht. Das war natürlich eine herbe Erfahrung.
Als Vergeltung für diese Flucht musste er drei Wochen in eine NKWD-Zelle (NKWD = russischer Geheimdienst). In der einen Quadratmeter großen "Behausung" konnte er nicht liegen. Danach kam er für zwei Monate in ein Strafbataillon, wo ihm nochmals unter Aufsicht von rumänischen Antifaschisten Hören und Sehen verging.
Überhaupt erlebte er während seiner Zeit in der Ukraine eine "wundersame Nationalitätenwandlung". Die Saarländer waren plötzlich Franzosen, die Oberschlesier Polen und die Österreicher benahmen sich aus seiner Sicht am schlimmsten. Sie wollten mit den Deutschen nichts zu tun haben und ihnen das "Heim ins Reich" nachträglich heimzahlen. Die Russen an sich waren sehr umgänglich, und Hilger fand zahlreiche Freunde. Einige Monate nach der Flucht im Jahre 1947 kehrte er zu seiner Brigade zurück und machte als Elektriker wieder die gleiche Arbeit.
Er erinnert sich, dass die Firmen 567 Rubel pro Gefangenen und Monat zahlen mussten. Er verdiente häufig mehr, ca. 1600 bis 1700 Rubel. Davon konnte er immer gut leben. Das meiste wurde, wie man heute salopp sagt "verfressen und versoffen". Diese guten Zustände erlebte er aber erst 1948 und 1949. In der Anfangszeit bekam er neben der Grundnahrung eine Portion roten Zucker, Tulkies (Salzheringe) und Machorka. Die Raucher tauschten immer wieder kostbare Lebensmittel gegen Rauchwaren ein und schädigten sich somit selber.
Helmut Hilger wollte nur überleben, und betrieb während seiner Freizeit meistens Sport (Fußball und Ringen). In Dnjepopetrowsk bestanden acht Lager (4 für Kriegsgefangene und 4 für Internierte). Hier gab es zahlreiche fußballerische Begegnungen unter den Lagermannschaften mit vielen Zuschauern. An Nationalitäten waren hier Deutsche, Polen, Ungarn und Rumänen vertreten.

Die Die "verwegendste" Zeit seines Lebens dürfte Helmut Hilger aus Boscheln wohl in Dnjepopetrowsk verbracht haben. Er spielte u.a. in einer guten Lager-Fußball-mannschaft.

"Plennik" Hilger trainierte auch mit zivilen Ringern in Dnjepopetrowsk, durfte aber als Gefangener an keinem öffentlichen Wettkampf teilnehmen.
Endlich wurde er im Dezember 1949 entlassen, und es erfolgte die lange Reise nach Hause. Immerhin war er zehn Tage von Dnjepopetrowsk bis nach Boscheln unterwegs. Gemeinsam mit einem Holzkoffer und Hans Mainz kam er in Palenberg an, das letzte Stück ging er zu Fuß.
Die meisten seiner Bekannten hatten gedacht, dass er nicht mehr lebe. Der Ehemann der Hebamme Reinhardt traf ihn kurz vor zu Hause und fuhr ihn in seinem Wagen bis vor die Tür. Groß war das Hallo als "Plennik Gelmut" nach vier Jahren der Ungewissheit sein Elternhaus in der Boschelner Lindenstrasse 100 betrat. Mit seinem starken Überlebenswillen hatte er eine lange Zeit in Russland überstanden. Aber er hatte in die richtige Richtung investiert und begann unmittelbar danach auch in Boscheln sein sportliche Karriere als Fußballer und Ringer. Training hatte er in Dnjepopetrowsk ja genug gehabt.


Aus: Jürgen Klosa, "Eine Generation verabschiedet sich", Übach-Palenberg, 2004.
ISBN: 3-00-014237-1

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