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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
2. Weltkrieg
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Hans Weßling
geb. 1922

Leningrad
Soldat (Luftwaffe) von August 1941 bis März 1945, als Flak-Kanonier.

Stationen u.a.: Libau, Windau, Ostsee, Danzig, Kordel, Westwall, Helenenberg, Eifel, Hunsrück, Taunus, Russland (Luga, Bateskaja, Grigorowo, Nowgorod, Ilmensee, Tschudowo, Tossno, Krasnowadeiks, Schlüsselburg, Leningrad, Ladogasee, Karbuselli, Luban, Peipussee, Pleskauersee, Appyscha, Pleskau, Irboska), Lettland (Riga), Luxemburg, Belgien (Ardennen).


Die Schlacht um Leningrad

Aus den Kriegsaufzeichnungen von Pater Hans Weßling stammt folgende Geschichte:
"Die Sylvesternacht 1942 sollte unsere Batterie noch in Krasnowadeiks verbringen. Pünktlich zum Beginn des neuen Jahres setzte ein Feuerwerk ein, wie ich es bis dahin noch nicht erlebt hatte. Alle leichten Flakgeschütze rund um Krasnowadeiks ließen wie auf Kommando ihre Salven in die Luft gehen. Das war kein Einsatz gegen feindliche Flieger. Die Woche des Wartens auf den angekündigten Erdeinsatz hatte wohl einen Rückstau bewirkt, der sich hier bei Ankündigung des neuen Jahres in dieser unerlaubten Knallerei entladen hatte.
Unmittelbar nach Neujahr war es dann soweit. Wir wurden in die Hölle rund um Leningrad verlegt. Kein Mensch wird je ermessen können, was sich in Leningrad vom Wintereinbruch 1941 bis zur Befreiung nach Weihnachten 1943 abgespielt hat, wieviel Menschen hier den Bomben und Granaten, aber auch dem Hunger und dem Frost zum Opfer gefallen sind. Die Stadt war von deutschen Truppen eingekesselt. Nur auf dem Wasserweg gab es noch eine Möglichkeit, Nachschub zu empfangen. Aber auch hier warteten U-Boote und Zerstörer darauf, dass zu vereiteln. Für die Russen bedeutete der Name Lenins, den diese Stadt trug, dass Leningrad unter keinen Umständen preisgegeben werden durfte, koste es was es wolle.
Sobald der Winter 1942/43 einsetzte, tobte der Kampf auf`s Neue mit höchster Erbitterung. Über den gefrorenen Ladogasee rollte wieder Nachschub in die Stadt. Man erzählte uns, die Russen hätten eine Eisenbahnlinie übers Eis gelegt. Mit Gewalt versuchten sie nun, vom Ladogasee aus und von den Seitenfronten, wieder eine Landverbindung nach Leningrad zu erkämpfen. Auch den Deutschen ging es um ein Prestige. Mit geballtem Einsatz sollte Leningrad zu Fall gebracht werden.

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Leningrad
Wer hier diese Winterkämpfe mitgemacht hat, wird Namen wie EMGA, Gleisdreieck, Schlüsselburg oder Ladogasee nicht so leicht aus seinem Gedächtnis verlieren.
Über Nacht waren wir in diesen Frontabschnitt hineingeworfen worden. Bei EMGA galt es einen Flakriegel zu bilden. Gleich beim ersten Morgengrauen sollte uns das Entsetzen überkommen. Wir waren im Dunkeln hinter einen Erdböschung in Stellung gegangen. Vor uns lag das Niemandsland. Doch der Erdwall schützte uns vor Feindeinsicht. Die Geschütze unseres Zuges lagen etwa 50 bis 60 Meter auseinander. Als unser Waffenwart erstmalig von einem Geschütz zum anderen gehen wollte, entdeckte er auf dem Boden zwei Finger. Er war sehr erschrocken, und bald war das Gruseln in uns allen. Neben den Fingern befand sich ein zugefrorener Bombenkrater. Dort hatte ein deutscher Soldat Schutz gesucht und war von einer Granate getroffen worden.
Der tote Kamerad musste geborgen werden! Mutter, Ehefrau, Kinder, irgendwer wartete auf Nachricht über ihn. Mit der Spitzhacke machten wir uns an die Arbeit. Stück für Stück mussten wir den Leib des Gefallenen aus dem Eis befreien. Der Tote war gänzlich zur Unkenntlichkeit entstellt. Doch als wir am Ende alle gefundenen Körperreste auf einem Schlitten hatten, wussten wir, dass wir nicht nur einen, sondern zwei tote Kameraden aus dem Eis befreit hatten. Zwei bei den Leichenteilen gefundene Erkennungsmarken gaben uns diese Gewissheit. Mir kam das Psalmwort in den Sinn: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst..."


Sturm aus dem Kessel

Eine weitere sehr nahegehende Geschichte von Pater Hans Weßling, die ein entscheidendes Kriegserlebnis schildert:
"Wo sind die Kameraden vom vierten Zug? Wo ist Alex mit Hans Loos und Hans Linz ... Wo ist unser Chef, Oberleutnant Crux?" Ein banges Fragen und ein ungeduldiges, langes Warten. Erst am späten Nachmittag des 20. Juli erhalten wir die Antwort. Während ich in der Nacht zuvor die Kameraden vom 2. Zug von Pleskau abholte, musste Oberleutnant Crux plötzlich mit dem vierten Zug in Bereitstellung gehen. Sie waren einem russischen Spähtrupp in die Falle gegangen. Eine Möglichkeit sich zu befreien gab es nur, indem sie zwei von drei Geschützen sprengten, um diese nicht in russische Hände fallen zu lassen. Erleichterung bei uns, als sie wieder auftauchen. Unsere Freude sollte nicht lange anhalten. Wir sind uns bewusst, dass schnellstens gehandelt werden muss. Die Russen sind uns auf den Fersen. Vor uns liegt, in nicht weiter Ferne, ein kleines Dorf. Es scheint menschenleer zu sein. Da müssen wir durch. Wie wir uns dahin aufmachen, sehen wir in der Abenddämmerung von weitem, wie russische Infanteristen die Straße, die zu diesem Dorf führt, überschreiten. Uns fährt der Schreck in die Glieder. Wir sitzen in der Falle. Der großen Kurlandkessel verspüren wir noch nicht hautnah. Schlimm ist es aber sehen zu müssen, dass wir hier, vor diesem kleinen Dorf, ganz offensichtlich eingekesselt sind. - Wir, dass sind die Kameraden vom zweiten und vierten Zug der leichten Flakabteilung 4/834, ausgerüstet jetzt nur noch mit vier leichten 2cm Flak-38-Geschützen und drei Geländefahrzeugen. Etwa 25 bis 30 versprengte Infanteristen haben sich uns angeschlossen. Wehmütig erzählt mir einer von ihnen, ein 18jähriger, von daheim, von der Mutter.
Sobald die Dunkelheit perfekt ist, gibt es nur eine Rettung; ein Sturmlauf durch das menschenleere Dorf. Verzweifelt stürmen wir los. Die ersten Häuser brennen. Nur weiter durch das Feuer. Ich weiß nicht, wie oft es in dieser Nacht von meinen Lippen kommt: "Mutter der Barmherzigkeit bitte für uns, bitte für uns." Unser energisches Auftreten, unser Schreien, unser Stürmen muss den Russen einen gehörigen Schock versetzt haben. Ihr Widerstand verstummt immer mehr. Wir rennen buchstäblich durch das Dorf. Dann weiter, weiter, immer weiter. Als der Morgen anbricht, sinken wir irgendwo am Straßengraben nieder, erschöpft, doch wir sind gerettet. Mehrere Verwundete haben wir mit durch das Feuer gebracht. Einen Kameraden konnten wir nur tot aus dem Kessel herausbringen. Es ist jener junge Infanterist, der sich wehmütig an meine Seite geschmiegt hatte. Irgendwo am Wegesrand schaufeln wir ihm ein Grab. Tief erschüttert sind wir alle. "Vater unser", bete ich vor. Die Stimmer erstickt mir in Tränen. Dann schaufeln wir das Grab zu. Seine Erkennungsmarke habe ich gerettet. Ich werde sie später unserem Spieß weitergeben.
Sechs Wochen nach dem Sturm durch diese feurige Nacht, heftet unser Regimentskommandeur, Generalmajor Bulla, mir, dem Obergefreiten, das Deutsche Kreuz in Gold an die Brust. Dann befördert er mich auf der Stelle zum Unteroffizier. Ich habe mir nie für meinen Einsatz eine Auszeichnung gewünscht. Aber ich schäme mich nicht dafür, dass man mir das Eiserne Kreuz I. Klasse und das Deutsche Kreuz verliehen hat. Und ich bin Gott dankbar, dass er mir Kraft gab, meinen Kameraden hierbei ein Ansporn gewesen zu sein.

Auszeichnung mit dem Deutschen Kreuz nach einer verzweifelten Ausbruchaktion.Auszeichnung mit dem Deutschen Kreuz nach einer verzweifelten Ausbruchaktion.

Von dem Tag an, da man mich zum Unteroffizier beförderte, musste ich meine Kameraden vom 10. Geschütz verlassen. Ich wurde Geschützführer vom 11. Geschütz und tat dort mit Ernst Haunstetter, einem lieben Kamerad aus München, meinen Dienst.

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Leningrad
Bedingungslose Hingabe

Über seine "Feuertaufe" der Hingabe schreibt Pater Hans Weßling:
Warum hat Gott mich in seinen Dienst gerufen? Es gab doch viele, die würdiger waren als ich. Ich kann mir nur eine Antwort auf diese Frage geben. Er wollte zeigen, dass es nicht auf das Material ankommt, sondern auf ihn, den Künstler, der aus Steinen Kinder Abrahams machen kann.
Immer deutlicher vernahm ich seinen Ruf: "Komm, folge mir!" Im Noviziat hatte ich ihm entwischen wollen. Er hat mich nicht losgelassen. Im Gegenteil, immer näher zog er mich an sich. Im Sturm des Krieges läuterte er mich wie Gold im Feuerofen. Bedingungslos habe ich mich ihm ergeben. Der Tag, an dem das geschah, war der 17. März 1944, in dem kleinen Dorf Appyscha, nördlich von Pleskau. Über Nacht waren wir hierhin verlegt worden. Unsere Geschütze hatten wir bei Dunkelheit in Stellung gebracht. An jedem dieser Geschütze blieben zwei Mann auf Wache stehen.

Hans Weßling auf Winterposten vor Leningrad.Hans Weßling auf Winterposten vor Leningrad.

Die anderen lagen todmüde auf dem Boden eines Kellers in einem benachbarten Haus. Noch ehe der Morgen graute, überfiel uns ein mörderisches Feuer. Das Gedröhne der Bomben und Granaten war so gewaltig, dass man weder Abschuss noch Einschlag unterscheiden konnte. Die Luft im Keller war voller Brandstaub. Wir drohten zu ersticken. Alles drängte zu einer Kellerluke. Mein erster Gedanke: "Hier kommst du nicht mehr raus!" Aber wirklich, nur für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich so. Dann war es wieder da, dieses befreiende Wort "Du wirst dein Ziel erreichen!" Jetzt war ich gewiss, der Herr verlässt mich nicht.
Über uns brannte das Haus. Wir eilten hinaus zu unseren Geschützen. Um uns das Grauen! Bomben, Granaten und die Stalinorgel. Das schlimmste Trommelfeuer meines Lebens hatte begonnen. Plötzlich setzte Ruhe ein, unheimliche Ruhe. Ich schaute auf meine Taschenuhr, meinte es müsste Mittag sein. Acht Uhr morgens war es. Dann wagte ich, den Kopf über den Rand meines Loches zu heben. Ich schreckte zurück! Ein russischer Panzer fuhr unmittelbar an unseren Geschützen vorbei. Warum nur einer? Wir sollten es bald wissen. Der Panzer kam um zu erkunden. Er drehte zurück auf die russische Stellung zu. Im Niemandsland versackte er in einem zugefrorenen Bombentrichter. Doch die Besatzung konnte noch zu den russischen Gräben laufen.
Minuten später setzte wieder mörderisches Feuer ein. In Appyscha tobte die Hölle. Rund um unsere Stellung prasselte die Stalinorgel nieder. Und dann die Sekunden des Grauens. Die letzte Granate dieses ersten erneuten Feuerüberfalls schlug am Rande meines Loches ein. Ich höre es heute noch und werde es nie im Leben vergessen, mit welchem Luftdruck sie auf mich zusauste, wie es mich erdrückte. Mein Karabiner, der oben auflag, fiel mir zerfetzt in den Rücken. Ich kauerte am Boden, kratze mit den Fingernägeln den angefrorenen Boden an und rief: Deus in adjutorium meum intende! Domine ad adjuvandum me festina! (Oh Gott, komm mir zu Hilfe! Herr eile mir zu helfen!) Nichts, gar nichts hatte ich abbekommen. Ich betastete mich. Dann kam es aus innerstem Herzen heraus: "Herr, hier bin ich! Ich will Priester werden, ein heiliger Priester!" Im Nachbarloch mein Kamerad Hans Linz. Er konnte es nicht verlassen. Rundum noch tödliches Gewitter. So wie es etwas stiller wurde, wagten wir beide Blicke über den Rand unserer Löcher. Seine fragenden Augen verrieten mir alles. Unfassbar für ihn, dass mir nichts geschehen war.
Zwei Tage hielt dieses mörderische Feuer an. Zum Glück war es in den Nächten ruhiger. Als wir am 19. März in der Morgenfrühe aus Appyscha abgezogen wurden, war ich ein anderer. Restlos hatte ich mich dem Herrn übergeben.

Aus: Jürgen Klosa, "Eine Generation verabschiedet sich", Übach-Palenberg, 2004.
ISBN: 3-00-014237-1

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