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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Versailles
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Als wär`s ein Stück von mir
Autor: Carl Zuckmayer
ISBN: 3596210496

Buchauszug
Es war Samstag, der erste August. In unserer Gegend, der Mainzer Neustadt, war alles totenstill, kein Mensch und kein Fahrzeug auf der Straße, die Häuser wie ausgestorben. Aber von der Stadtmitte her hörte man, undeutlich und verworren, ein leises Brausen von vielen Stimmen, Gesang, Militärmusik. Ich lief in die Stadt. Je näher ich dem Schillerplatz kam, auf dem sich das Gouvernement der Garnison befand, desto dichter wurde das Gedränge: so ging es sonst nur zu, wenn an Fastnacht der Rosenmontagszug erwartet wurde. Aber die Stimmung war anders. Obwohl man Rufen, auch Schreien und Lachen hörte, war in dem ganzen Getriebe eine zielhafte Geschlossenheit, nichts von müßiger Neugier, so als hätte jeder dort, wo alle hinströmten, etwas Dringendes, Unaufschiebbares zu tun. Mitten durch all die Menschen marschierten kleine Kommandos der Gouvernements-Wache, die an den Straßenecken noch druckfeuchte Plakate anschlugen, darauf stand in großen, weithin lesbaren Buchstaben:

Seine Majestät der Kaiser und König hat die Mobilmachung von Heer und Flotte angeordnet. Erster Mobilmachungstag ist der
zweite August.
gez. Wilhelm, I. R.


Sonst nichts. Wer damals dabei war, hat diesen Text nie vergessen. Da und dort traf ich Schulkameraden oder Freunde aus der Nachbarschaft, und auch das gehörte zu dem Unfaßlichen: wir sprachen kaum miteinander, wir berieten uns nicht, wir schauten uns nur an, nickten uns zu, lächelten: es war gar nichts zu besprechen. Es war selbstverständlich, es gab keine Frage, keinen Zweifel mehr: wir würden mitgehen, alle. Und es war - das kann ich bezeugen - keine innere Nötigung dabei, es war nicht so, daß man sich etwa vor den anderen geniert hätte, zurückzubleiben. Man kann vielleicht sagen, daß es eine Art von Hypnose war, eine Massenentscheidung, aber es gab keinen Druck dabei, keinen Gewissenszwang. Auch in mir, der ich am vorletzten Abend noch zu einer Holländerin gesagt hatte: »Nie werde ich in einen Krieg gehen!«, war nicht mehr der leiseste Rest einer solchen Empfindung.

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Buchauszug
Der weite Schillerplatz vorm Gouvernement war schwarz von Menschen, man erwartete wohl eine offizielle Kundgebung, eine Ansprache des Gouverneurs oder dergleichen, aber es geschah nichts, die Militärmusik spielte die prächtigen alten Märsche, da und dort hörte man ein paar Stimmen »Hurra« rufen oder das Deutschlandlied singen, aber das verebbte gleich wieder, es ging ernst und würdig zu, fast feierlich, trotz der immer dichter gedrängten Menschenmenge. Extrablätter der lokalen Zeitungen wurden angeboten, in denen man las, daß Rußland entgegen seinem ausdrücklichen Versprechen seine gesamte Riesenarmee mobilisiert habe, daß die »russische Dampfwalze« mit ungeheurem Einsatz von Divisionen auf die deutsche Ostgrenze zustampfe, daß Frankreich ohne Warnung mobilgemacht habe und den deutschen Westen bedrohe. Wir sprachen nur noch davon, bei welchem Regiment man sich am besten melden sollte. Einer unserer Freunde, Sohn eines höheren Offiziers, informierte uns, daß mit den Kriegserklärungen am nächsten Tag zu rechnen sei und daß dann wohl überall Freiwillige angenommen würden. Am liebsten wären wir gleich alle zusammen in eine Kaserne gelaufen und gar nicht mehr heimgegangen. Wir hatten die Arme ineinandergehakt und bildeten eine Kette, um uns im Gedränge nicht zu verlieren - ich weiß noch heute den Namen jedes einzelnen, der da mit mir ging: Karl Gelius, Franz Klum, Leopold Wagner, Max Neuhoff, Heinz Römheld, Geo Hamm, Richard Schuster, Franz Pertzborn, Erich Hahn -, ich sehe ihre siebzehnjährigen Gesichter, wie sie damals waren, jung und frisch, ich könnte sie nie anders sehen, denn sie sind nicht gealtert. Sie sind alle tot, kriegsgefallen, jeder der hier Genannten. Zum Abschluß spielte die Militärkapelle, in langsamem Takt, das Lied vom Guten Kameraden, und wir sangen mit, ohne noch die Bedeutung dieser Strophe zu ahnen: »Es hat ihn weggerissen - Er liegt zu meinen Füßen - Als wär's ein Stück von mir.« Gegen Abend, noch vor Dunkelheit, rückten die 117er aus, das >Leibregiment der Großherzogin, die populärste Infanterietruppe unserer Heimat, bei der viele bekannte Persönlichkeiten der Stadt gedient hatten und jetzt als mobile Reserve mitmarschierten. Man sah vertraute Gestalten, auch die Spitzen des >Mainzer Rudervereins <, die bei mancher internationalen Regatta den Sieg errungen hatten. Sie kamen an unsrem Haus vorbei, das nahe beim Bahnhof lag: die höheren Offiziere, Regiments- und Bataillonsstab, zu Pferd, die Führer der kleineren Einheiten, junge Leutnants, zu Fuß, zehn Schritte vor ihrer Mannschaft, so wie sie ihr dann im Kampf vorausgegangen und zum großen Teil gefallen sind. Sie waren in Feldgrau, noch ohne Stahlhelme, die erst im Verlauf des Kriegs eingeführt wurden - die berühmten >Pickelhauben< mit grauem Stoff überzogen. Fast alle hatten Blumensträuße am Helm, am Tornister oder an den Gewehrläufen. Manche Gesichter waren von Sommerhitze und Wein gerötet, die meisten ruhig und gesammelt. Junge Mädchen, Bräute und Schwestern, liefen neben der Marschkolonne her und winkten den ihren zu, einige weinten. Auch unsere Köchin, die neben uns vor der Haustür stand, weinte - ihr Bruder war als Sergeant dabei, und als sie ihn neben seiner Gruppe hermarschieren sah, stürzte sie auf ihn zu und steckte ihm ein Päckchen in die Tasche. Er lächelte und grüßte uns mit seinem einfachen, derbknochigen Bauerngesicht. Ein junger Soldat warf seine Blumen im Vorüberziehn einer vor einer anderen Haustür stehenden Frau zu, die sie an ihr Herz preßte; wir wußten, daß es seine Mutter war. Er hielt die Hand noch erhoben, als er um die Straßenecke verschwand. Diese kleinen, unbedeutenden Einzelheiten waren es, die uns mehr ergriffen als der Anblick des Ganzen und sich dem Gedächtnis unauslöschlich einprägten. Es spielte keine Blechkapelle, die ersten Regimenter rückten still und ohne Musik aus, aber vom Bahnhof her hörten wir sie dann singen, wie mit einer Stimme.

Soldat-Werden, sein Jahr abdienen müssen, war für mich während der Gymnasialzeit immer eine peinliche, bedrohliche Vorstellung gewesen. Das bedeutete: Sich-Richten, Stillstehen, Maulhalten, Parieren, Subordination - den Verlust aller Freiheit. Jetzt war es das genaue Gegenteil: Befreiung! Befreiung von bürgerlicher Enge und Kleinlichkeit, von Schulzwang und Büffelei, von den Zweifeln der Berufsentscheidung und von alledem, was wir - bewußt oder unbewußt - als Saturiertheit, Stickluft, Erstarrung unserer Welt empfunden, wogegen wir schon im >Wandervogel< revoltiert hatten. Jetzt hatte das die Beschränkung auf Wochenende und Feriensport verloren, es war Ernst geworden, blutiger, heiliger Ernst, und zugleich ein gewaltiges, berauschendes Abenteuer, für das man das bißchen Zucht und Kommißkram gern in Kauf nahm. Wir schrien »Freiheit«, als wir uns in die Zwangsjacke der preußischen Uniform stürzten. Es klingt absurd. Aber man war, mit einem Schlag, ein >Mann< geworden, dem Unbekannten, der Gefahr, dem nackten Leben gegenübergestellt - die Drohung des frühen Todes erschien uns dagegen gering. Ja, es war eine Art von Todeslust, von mystischer Begehr nach dem Blutopfer, was damals die Welt übermannte, und ich glaube nicht, daß hier das berühmte Wort Clemenceaus von der »Verliebtheit des Deutschen in den Tod« am Platze ist. Ich hörte später von der gleichen Gestimmtheit in Frankreich, in England, dann sogar in Amerika. Was in Rußland vorging, blieb uns dunkel und unbekannt.

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In dieser inneren Befreiung der ganzen Nation von ihren abgelebten Konventionen, in diesem >Aufbruch< ins Ungewisse, ins ungeheure Wagnis, ganz gleich wen es verschlinge, sahen wir den Sinn des Kriegs, den Quell unsrer Begeisterung. Eroberungsziele, Machtansprüche waren für uns kein Thema. Wenn wir »Freiheit« riefen, meinten wir es gewiß im primitiven, im nationalen Sinn: unser Volk sollte befreit werden von der Bedrohung seiner Existenz (an die wir, wie alle kriegführenden Völker, bedingungslos glaubten), auch vom Druck einer Welt-Gegnerschaft, die ihm die freie Entfaltung seiner Kräfte versagen wollte. Aber wir meinten mehr. Es war keineswegs >militaristischer<, es war revolutionärer Geist, der in den Barackenlagern und Zeltställen der Kriegsfreiwilligen, in den Rekrutendepots von 1914 lebte. Die Jüngsten kamen wie ich von der Schulbank, viele von den umliegenden Universitäten, Heidelberg, Marburg, Gießen, und den Polytechniken, aber außer diesen gab es die jungen Arbeiter, Lehrlinge, Kaufleute, Landwirte, Künstler, einen Durchschnitt durch alle Stände und Klassen. Neben mir auf dem Strohsack schnarchte ein Schauspieler vom Mainzer Stadttheater, auf dem andern ein junger Maschinenschlosser, dessen Vater in der Fabrik meines Vaters an der Metallwalze stand. Gerade mit solchen, die aus dem - uns bisher kaum oder nur oberflächlich bekannten - Proletariat kamen, ergaben sich jetzt und später im Feld die stärksten Bindungen, und man tat gut, sich an sie zu halten. Sie hatten uns, den Söhnen des gepflegten Bürgertums, den Sinn für das Reale voraus, sie waren tüchtiger, geschickter, bedürfnisloser als wir, und man war stolz, daß es nicht, wie sonst zwischen >Einjährigen< und >Gemeinen<, einen Unterschied in der Behandlung und im Zusammenleben gab. Diese Sprengung des Kastengeistes hatte nichts von kommandierter >Volksgemeinschaft<, sie war durch keine materiellen Interessen und keine ideologische Doktrin unterbaut, sie ergab sich von selbst, sie hatte einen naturbestimmten, elementaren Zug oder wurde von uns jungen Menschen so erlebt und geglaubt. Tatsächlich war sie das beste und produktivste Element, das uns aus all den Umwälzungen der kommenden Zeit erwachsen konnte. Bei uns im Südwesten Deutschlands lebte wohl das Gedankengut der Revolution von 1848 und der Frankfurter Paulskirche noch stärker fort als anderwärts, und dieser Tenor beherrschte die Gespräche und Diskussionen, in denen wir bis zur Abstraktion, zur Kategorie, zur philosophischen Deutung unserer recht handgreiflichen Erlebnisse vorzudringen suchten. Todmüde von Pferdetransporten, zu denen man uns zunächst, bis das Ausbildungspersonal beisammen war, verwendete, dann von Stalldienst, erstem Reitunterricht, Geschützexerzieren, Marschübungen, und dazwischen von endloser Warterei, Abzählen, Appellen, gingen doch noch die halben Nächte im Debattieren hin, in jenen flüchtig aufgebauten, geteerten Baracken oder Turnhallen oder Wirtshaussälen, wo man uns aus Platzmangel in den Kasernen bis zu fünfzig und hundert Mann zusammengepfercht hatte. Ich höre noch die ausgesoffene, heisere Baßstimme des dicken Heidelberger Studenten von ungezählten Semestern, eines Troeltsch-Schülers, wenn er uns den Geist der Zeit erklärte und immer wieder in die Prophezeiung ausbrach: so wie der Krieg 70 die deutsche Einheit, so werde der Krieg 14 das deutsche Recht und die deutsche Freiheit bringen. Unser Sieg (an dem keiner zweifelte) bedeute ein neues, kulturell und politisch geeintes Europa unter der Ägide des deutschen Geistes, es werde erst dann zu einer wahren Verständigung der Nationen kommen, die auch uns einen neuen Horizont erschließen müsse, und dem heimkehrenden Volksheer werde Berlin das freie, allgemeine und geheime Wahlrecht nicht verwehren können. (Noch mehr Freiheit konnten wir uns nicht ausdenken.) Der Kaiser, auf den wir unseren Fahneneid schworen, war für uns der, der am 4. August gesagt hatte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!« und von seinem Reichstag, einschließlich der Sozialdemokraten, begeistert akklamiert worden war. Das aber war für uns ein Versprechen, und wir erwarteten, als Kriegsziel, eine reformierte, konstitutionelle Monarchie, deren eigentliche Regierungsform demokratisch sei. In einer dieser Nächte wurde, trotz aufgerittener Hintern und strapazierter Muskeln, mit verteilten Rollen das > Jahrhundertfestspiel in deutschen Versen< gelesen, das Gerhart Hauptmann zur Erinnerung an die Freiheitskriege geschrieben hatte, und wir belustigten uns über den preußischen Kronprinzen, der es, ein Jahr vorher, in Breslau hatte verbieten lassen. Die Debatten gingen nach allen Richtungen ins Uferlose, Religion, Soziologie, Griechentum, Idealismus im Sinne von Kant und Schiller oder Goethes Naturdämonie mit einbeziehend, bis die barsche Stimme eines Fuhrknechtes oder Rheinschiffers »Ruhe!« brüllte, weil er, mit Recht, Schlafen für wichtiger hielt. Ich weiß nicht viel von mir selbst aus dieser Zeit, auch nicht, was ich in freien Stunden geschrieben habe. Ich weiß nur, ich war ein Anderer geworden, den ich nicht gekannt hatte. Alle waren Andere geworden, und es war, als ob wir uns alle, uns selbst und untereinander, ganz neu, zum ersten Mal, kennenlernten.

Quelle: Carl Zuckmayer
"Als wär`s ein Stück von mir"
S. Fischer Verlag
ISBN: 3596210496

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