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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Machtergreifung
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Die Kindertransporte 1938-39
Wolfgang Benz / Claudia Curio / Andrea Hammel (Hg.)
Die Kindertransporte 1938/39

Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien sind nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Mit diesem Buch stellt eine deutsch-britische Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen den aktuellen Stand ihrer Forschungen vor.
Darüber hinaus enthält der Band autobiographische Texte, u.a. von Fred Jordan, Ilse Aichinger und ihrer Zwillingsschwester Helga Michie.

Autor: Wolfgang Benz, Claudia Curio, Andrea Hammel (HG)
ISBN: 3-596-15745-5

Buchauszug
Wolfgang Benz
Emigration als Rettung und Trauma
Zum historischen Kontext der Kindertransporte nach England
Warum haben sich die deutschen Juden der mit Hitler und der NS-Herr-schaft drohenden Katastrophe nicht mehrheitlich durch rechtzeitige Flucht aus dem Machtbereich Hitlers entzogen? Nicht bedacht sind bei dieser naiven Frage die ökonomischen und administrativen Schwierigkeiten, die einer Ausreise im Wege standen, und nicht bedacht sind die politischen Hindernisse, die den Juden aus Deutschland (und später aus ganz Europa) von potenziellen Aufnahmeländern in den Weg gelegt wurden. Der mit der Emigration fast immer zu erwartende Statusverlust und die für die Exilländer fehlende berufliche Qualifikation waren weitere Hindernisse. Das Selbstverständnis der hoch assimilierten deutschen Juden war ein gewichtiger, zunächst sogar der gewichtigste Grund, der gegen ihre Auswanderung sprach.
Die wenigsten deutschen Juden reagierten auf die neue Regierung mit dem Gedanken an Auswanderung. Die Erkenntnis, dass die Basis jüdischen Lebens in Deutschland verloren ging, war im Frühjahr 1933 unter den Juden noch wenig verbreitet. Die Schwierigkeiten, die für die Ausreise zu überwinden waren, bildeten das eine Hindernis (mit der Reichsfluchtsteuer und den im Laufe der Zeit progressiven wirtschaftlichen Schikanen bis zur vollständigen Ausplünderung vor dem Verlassen des Deutschen Reiches), die Hürden in den Aufnahmeländern (vorweisbares Vermögen, bestimmte Berufsqualifikationen, Bürgen im Land) das andere.
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Buchauszug
Zur Zeit der Machtübernahme Hitlers lebten in Deutschland etwa 550000 Juden. Nur 38000 von ihnen verließen 1933 die Heimat. 1934 waren es weniger als 23000, 1935 emigrierten 20000 deutsche Juden. Die »Nürnberger Gesetze« 1935, die Juden in Deutschland zu zweitklassigen Staatsangehörigen - ohne politische Rechte - herabstuften, bewirkten einen leichten Anstieg der Emigration (25 000). Nach dem Olympiajahr 1936 ging die Auswanderung wieder zurück (23 000). Die größten Emigrationswellen mit etwa 40 000 Auswanderern gab es 1938, verursacht durch die antisemitischen Schikanen nach dem Anschluss Österreichs (wo etwa 190000 Juden lebten) und die Novemberpogrome, sowie 1939. In diesem Jahr verließen 75000 bis 80000 Juden den deutschen Machtbereich. Die Verschärfung der judenfeindlichen Politik war im Jahr 1938 unverkennbar, sie zeigte sich außer in dem Ge-waltexzess der Vertreibung von 17 000 Juden polnischer Nationalität im Oktober und den inszenierten Pogromen der »Reichskristallnacht« in einer Vielzahl von schikanösen Erlassen und Verordnungen, von der Registrierung jüdischen Vermögens bis zur Anordnung der Zwangsvornamen Sara und Israel.
Das wichtigste Exilland war zunächst Frankreich, erste Stationen bildeten (bis 1938) auch Österreich, die Tschechoslowakei und das bis 1935 unter Völkerbundsmandat stehende Saarland. Bis zum Herbst 1938 hatten sich etwa 11000 deutsche Juden nach Großbritannien retten können, nach der »Reichskristallnacht« kamen weitere 40 000. Palästina und die Vereinigten Staaten waren die begehrtesten Exilländer. Aufgrund der restriktiven Quotenregelung, die Großbritannien als Mandatsmacht des Völkerbundes erlassen hatte, konnte nur ein kleiner Teil der siedlungswilligen Juden legal nach Palästina einreisen, die illegale Zuwanderung suchten die britischen Behörden mit allen Mitteln zu verhindern. Auch für die USA gab es Einwanderungsquoten und die Verpflichtung, das Af-fidavit eines US-Bürgers vorzulegen, der garantierte, dass der Einwanderer nicht zur sozialen Belastung würde. Nach Palästina konnten sich insgesamt weniger als 50000 deutsche Juden retten, in den USA fanden immerhin 130 000 eine neue Heimat. Alles in allem war es höchstens die Hälfte der Juden aus Deutschland und Österreich, die der nationalsozialistischen Verfolgung durch Emigration entkommen konnte. Bis 1939 forcierte und bremste der NS-Staat die Auswanderung der deutschen Juden gleichzeitig. Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft förderte deren Emigrationswillen, aber die Ausplünderung durch Vermögenskonfiskation und ruinöse Abgaben hemmte die Auswanderungs-
möglichkeiten. Eine Heimtücke des Regimes bestand darin, dass es den Antisemitismus zu exportieren hoffte, wenn die aus Deutschland vertriebenen verarmten Juden zum sozialen Problem in den Aufnahmeländern würden. Mit dem Anschluss Österreichs und der Annexion des Sudetenlandes geriet die Flucht von Juden aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet verstärkt ins Blickfeld der Nachbarstaaten. Insbesondere die Schweiz traf Vorkehrungen, um sich des Zuzugs Unerwünschter zu erwehren, Polen sperrte im Herbst 1938 sogar eigene jüdische Staatsbürger aus, die schon lange in Deutschland oder Österreich lebten. Im Juli 1938 fand am französischen Ufer des Genfer Sees eine internationale Konferenz statt, die den Problemen der jüdischen Auswanderung aus Deutschland gewidmet war. Eingeladen hatte Präsident Roosevelt, gekommen waren Vertreter von 32 Staaten und Abgesandte jüdischer Organisationen nach Evian-les-Bains, geschehen ist nichts, was die Chancen jüdischer Flüchtlinge verbessert hätte. Dem verstärkten Druck zur Emigration durch den NS-Staat Anfang 1939 folgten massive Behinderungen bis zum Auswanderungsverbot im Herbst 1941. Mit zunehmender Diskriminierung und Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen und ökonomischen Leben nahm andererseits und begreiflicherweise die Bereitschaft zur Emigration zu. Die Pogrome im November 1938 öffneten auch denjenigen deutschen Juden die Augen, die gezögert hatten, weil sie nicht glauben konnten, wie ernst die Lage war. In letzter Minute, nach der »Reichskristallnacht«, machten deutsche Juden angstvoll Jagd nach den notwendigen Papieren, flehten vor gelangweilten Bürokraten in den Konsulaten um Einwanderungserlaubnis, kämpften mit skrupellosen Geschäftemachern, die Visa und Passagen zweifelhafter Qualität als Rettungschancen feilboten. Der Handel mit dubiosen Tickets und wertlosen Einreisevisa in südamerikanische Länder florierte.
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Vor der Auswanderung standen viele bürokratische Hürden. Ein Reise-pass durfte bei der Polizei erst beantragt werden, wenn Unbedenklichkeitsbescheinigungen verschiedener Finanzämter beigebracht waren, aus denen hervorging, dass alle Steuern bezahlt waren, dass auch die »Reichsfluchtsteuer« entrichtet war und dass der Anteil an der »Sühneabgabe«, der den deutschen Juden zynisch auferlegten Sondersteuer nach dem Novemberpogrom, bezahlt war. Das Geld war auch für diejenigen, die noch Vermögen hatten, nur mit Schwierigkeiten aufzutreiben, denn seit Ende April 1938 waren jüdische Vermögen sequestriert. Emigration als Flucht aus Hitler-Deutschland, die Rettung von Juden, der alltägliche Widerstand von Deutschen gegen die nationalsozialistische Diktatur waren lange Zeit von der deutschen
Geschichtswissenschaft wenig beachtete Themen. Die Historiker in der Bundesrepublik konzentrierten sich lange auf den Widerstand der Eliten, vor allem auf die Männer des 20. Juli 1944, die Studenten der Weißen Rose, den Kreisauer Kreis. Die Historiker der DDR waren vor allem mit dem kommunistischen Widerstand beschäftigt, der als Legitimation des antifaschistischen Nachkriegsstaats diente und andere Erinnerungen verdrängte.
Wichtigstes Thema wurde dann der Holocaust als das Jahrhundertverbrechen der Nationalsozialisten, und die Suche nach den Ursachen der deutschen Katastrophe bleibt ein Hauptanliegen der Historiker. Das Exil und die Rettung von Juden erschienen demgegenüber bis vor kurzem als marginale Ereignisse. Dass Flucht und Vertreibung aus Deutschland ebenso wie das Überleben im Konzentrationslager trau-matisierende Erfahrungen waren, kam erst spät ins öffentliche Bewusst-sein. Man hielt die Geretteten grundsätzlich für unbeschädigt, und ihr Schicksal war deshalb angesichts der Millionen Todesopfer weniger interessant. Auch die Betroffenen, die oft Symptome einer Überlebensschuld entwickelten, schwiegen lange Zeit.
Das Exil einzelner prominenter Schriftsteller, Künstler, Politiker hatte zuerst Aufmerksamkeit gefunden, viel später entdeckte man die gewöhnlichen Emigranten aus Deutschland, das Exil der kleinen Leute. Noch später fanden die etwa 10 000 Kinder und Jugendlichen, die nach den Pogromen im November 1938 mit Hilfe philanthropischer Anstrengungen nach Großbritannien reisen durften, den Weg in das öffentliche Gedächtnis. Zwischen zwei und 17 Jahre alt waren die jungen Menschen, die zwischen Dezember 1938 und September 1939 mit den »Kindertransporten« über die Niederlande nach Großbritannien gebracht wurden. Dort sollten sie vorübergehend oder auch für immer eine neue Heimat finden. In Großbritannien hofften sie auf ein Wiedersehen mit ihren Eltern. Neun von zehn hofften jedoch vergeblich. Während die Kinder in einem langwierigen und oft freudlosen Akkulturationspro-zess Schulunterricht und Ausbildung genossen, wurden die Eltern in Deutschland als Juden in die Ghettos und Vernichtungslager in den eroberten osteuropäischen Territorien deportiert und dort ermordet. Trennung traumatisiert an sich, die Ungewissheit über das Schicksal der Angehörigen kommt dazu, und das spätere Wissen um die Ermordung von Eltern und Verwandten macht das weitere Leben schwer. Der
Bericht eines der ehemaligen Kinder zeigt das Problem in erschreckender Kürze deutlich: »Im Juli 1939 kam ich mit dem Refugee Children's Movement nach England und ging gleich in die von Miss Essinger geführte Bunce Court School. Meine Eltern konnten nicht aus Deutschland entkommen und wurden in Auschwitz ermordet.« Auch das Elend der Eltern, die ihre Kinder im Winter 1938/39 oder später (der letzte Transport verließ Deutschland am 1. September 1939) zum Bahnhof brachten, ist schwer zu beschreiben. Hertha Nathorff, Ärztin in Berlin und Mutter eines 13-Jährigen, ist froh, dass Heinz nach Großbritannien darf, und unglücklich über die Trennung. In ihrem Tagebuch heißt es am 2. März 1939: »Mein Kind ist fort! Früh um 6 Uhr haben wir den Jungen zum Schlesischen Bahnhof gebracht zum Kindertransport nach England [...] Und wen ich alles traf an diesem Morgen! Eine Kollegin in tiefer Trauer - ihr Mann starb drei Tage nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager. Sie schickt ihren Jungen weg. Eine Patientin von mir bringt ihr vierjähriges Mädelchen. Ein anderer Patient sein Töchterchen, dessen arische Mutter bereits im Ausland lebt. Immer mehr Bekannte kommen.« Der Anblick des Gestapomannes wühlt sie auf, nicht minder das Zusammentreffen mit Bekannten in gleicher Lage. »Und die Kinder, sie stellen sich an mit ihren Köffer-chen, die sie ja selber tragen müssen. Jedes Kind bekommt eine Nummer, und die Kinder, sie kommen sich so wichtig, so interessant dabei vor, während es uns das Herz zerreißt. Bald müssen wir uns verabschieden. Die Kinder sollen reihenweise zum Zug geführt werden. Begleitung der Eltern zum Bahnsteig ist verboten.« Die Mutter eilt mit einem Taxi zum Bahnhof Zoo, um dort bei der Durchfahrt des Zuges noch einen Blick auf ihr Kind zu werfen, ihm Kekse durchs Fenster zu reichen und noch einmal Glück für die Reise zu wünschen. Diejenigen auszuwählen, die auf einen Kindertransport durften, gehörte zu den Aufgaben der jüdischen Gemeinden. Es war eine schwere Pflicht, zwischen den Anforderungen und Kriterien der aufnehmenden Organisation und den Wünschen und Hoffnungen der Eltern, die zunächst die Illusion hatten, sie könnten die Kinder begleiten, zu entscheiden. Mindestens so schwer war die professionelle Betreuung der Abreisenden durch jüdische Sozialarbeiter.
Einer von ihnen, der durch seinen Einsatz herausragte, war Norbert Wollheim. Er hatte 1933 sein gerade begonnenes Jurastudium abbrechen müssen, war dann in jüdischen Organisationen tätig, war Geschäftsführer des Bundes deutschjüdischer Jugend, arbeitete in einer Exportfirma und betreute innerhalb der Berliner Jüdischen Gemeinde Menschen, die Haft in Konzentrationslagern erlitten hatten. Er wurde gefragt, ob er bei den Kindertransporten helfen wolle. Seine Qualifikation bestand darin, dass er Erfahrung in der jüdischen Jugendarbeit hatte, Organisationstalent besaß und seine eigenen Interessen hintanstellte. Er war 25 Jahre alt und selbst auf der Suche nach Fluchtwegen für sich und seine junge Frau.
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Die private Sorge schob er auf und übernahm die Organisation der Abreise (und dann der Begleitung) der Kinder: »Oft arbeiteten wir die ganze Nacht durch. Die politische Lage verschlechterte sich von Minute zu Minute, und wir wollten unser Ziel von 10000 Kindern so rasch wie möglich erfüllen. Wir meinten, dies noch vor Ablauf der Jahresfrist bewerkstelligen zu können. Unsere Aufgabe bestand darin, die Transporte entsprechend den in den Zügen verfügbaren Plätzen zu planen. Nach der Bearbeitung der Anträge durch das Innenministerium in England wurden diese zusammen mit den entsprechenden Bewilligungen wieder an uns zurückgeschickt, und wir verständigten dann die Eltern, dass ihre Kinder eine Einwanderungserlaubnis für England bekommen hatten. Oft kam es vor, dass Eltern nur für ein Kind eine Einreisebewilligung bekamen, für dessen Geschwister aber nicht. In einem solchen Fall mussten wir den Eltern sagen, dass es uns Leid tue, wir aber nur jene Kinder aufnehmen könnten, die bereits eine Bewilligung in Händen hätten. Darauf hatten wir keinen Einfluss. Wir waren sehr offen zu den Eltern und bemühten uns, sie davon zu überzeugen, dass hier keinerlei Diskriminierung mit im Spiel war. Sobald wir drei- oder vierhundert Bewilligungen beisammenhatten, legten wir sofort ein Datum für die Abreise des Transportes fest. Die Kinder trafen sich an einem vorgegebenen Platz, z. B. dem Bahnhof in Berlin. Kinder, die aus dem östlichen Teil Deutschlands oder aus Polen kamen, mussten rechtzeitig für den Transport nach Berlin gebracht werden. Wenn die Eltern über die nötigen finanziellen Mittel verfügten, begleiteten sie sie. Andernfalls mussten die Kinder allein fahren. Sie trafen entweder am Morgen des Abreisetages ein oder mussten dann noch eine Zeit lang bei Verwandten oder Freunden bleiben. Damit konnten wir uns nicht auch noch beschäftigen. Es wäre einfach zu viel für uns gewesen. Norbert Wollheim beschreibt die Abreise der Kinder aus der Perspektive des Verantwortlichen für die Organisation: »Die Polizei bestand darauf, dass die Eltern ihre Kinder nicht zum Zug begleiten durften [...], dass der Abschied nicht in der Öffentlichkeit bemerkbar sein durfte.« Ein separater Warteraum war deshalb für die Kindertransporte eingerichtet worden. »Kurz vor der Abfahrt stieg ich auf einen Stuhl, er war meine Kommandobrücke, und erklärte den Eltern, dass die Stunde des Abschieds gekommen war. Ich bat die Eltern, hier Lebewohl zu sagen, da die Polizei den strikten Befehl erlassen habe, dass wir die Kinder zur Bahn führen sollten, die Eltern müssten hier zurückbleiben. Und ich bat sie um Verständnis und um ihre Mithilfe, weil nur ihre Zurückhaltung die Weiterführung der Transporte garantieren könne ... Später habe ich mich oft gefragt, woher ich den Mut hatte, dies den Eltern zu sagen. Ich kann nur sagen, dass wir damals nicht wussten und es auch nicht vorhersehen, nicht einmal ahnen konnten, dass es für die meisten von ihnen der Abschied für immer sein würde, dass die meisten Kinder ihre Eltern nie wieder sehen würden.«
Norbert Wollheim gehört zu den Heroen der Kindertransporte. Durch sein Engagement verpasste er die eigenen Chancen zur Flucht. Er kehrte immer wieder nach Deutschland zurück, wenn er einen Transport nach Großbritannien begleitet hatte. Er engagierte sich dann als Referent bei der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in der handwerklichen Ausbildung der aus ihren Berufen verdrängten Juden, im Herbst 1941 wurde er zur Zwangsarbeit verpflichtet. Am 8. März 1943 wurde er mit seiner Frau und dem dreijährigen Sohn in Berlin-Halensee verhaftet und über das Sammellager in der Großen Hamburger Straße am 12. März nach Auschwitz deportiert. Frau und Kind sah er bei der Ankunft zum letzten Mal. Als Häftling verrichtete er Schweißarbeiten bei der Montage des Bunawerks der I. G. Farben in Auschwitz-Monowitz, wurde im Januar 1945 nach Sachsenhausen »evakuiert«, dann auf einen Todesmarsch getrieben, aus dem er sich irgendwo in Mecklenburg durch Flucht selbst befreite.
Er war dann von Lübeck aus beim Wiederaufbau jüdischer Organisationen tätig und 1952 Kläger im Musterprozess gegen die I. G. Farben.12 Für die Entschädigung der Zwangsarbeiter war dieser Prozess, der 1957 mit einem Vergleich zu ihren Gunsten endete, ein Meilenstein. Norbert Wollheim war 1950 in die USA ausgewandert. Er gründete eine neue Familie und eine neue Existenz als Wirtschaftsprüfer. 1998 ist er in New York gestorben.
Das Trauma der Trennung gehört zum Schicksal der emigrierten Kinder und hat oft auch noch die nächste Generation erfasst. Für die Eltern, die in Deutschland zurückblieben, war der Abschied von den Kindern meist der Beginn der Katastrophe, die in Theresienstadt oder Auschwitz, in einer Erschießungsgrube, in der Gaskammer, im elenden Ghettotod durch Verhungern oder Misshandlung endete. Für die Helfer und Mitwirkenden der Kindertransporte waren - wie Norbert Wollheims Leben zeigt - die Ereignisse ähnlich wie für die Eltern Stationen des Holocaust.


Quelle: Wolfgang Benz, Claudia Curio, Andrea Hammel (HG)
Die Kindertransporte 1938/39
ISBN: 3-596-15745-5
Fischer Taschenbuch Verlag, 12,90 Euro
S. Fischer Verlag GmbH

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